Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantasie
des Verrückten ist, desto weniger kommen die
Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewusst-
seyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefesselt ist,
desto weniger können andere Platz gewinnen und
die fixirten verdrängen. Denn es ist unbedingtes
Naturgesetz, dass die distributiven Aeusserungen
der Lebenskraft in dem Maasse erlöschen, als
ihre Wirksamkeit an einem Ort hervorstechend
angestrengt wird. Nun wirken aber die körperli-
chen Excitatoren gleichmässig, also auch auf die
schon zu empfindlichen Saiten; die beruhigen-
den
Arzneien stimmen alles, auch die torpiden
Fasern, in gleichen Graden herunter. Man kann
allerdings den Rasenden durch Mohnsaft zur
Ruhe bringen, allein gescheut ist er deswegen
nicht, sondern nur ein Narr anderer Art gewor-
den. Doch muss man die Sthenie und Asthenie
des Vegetationssystems, welches auf das Ganze
einfliesst, nicht verwechseln mit der eigenthüm-
lichen Energie, die das Gehirn, als ein schon
gebildeter Theil, unabhängig von demselben, be-
sitzt. Das Vegetationssystem kann zwar zu
schwach seyn in Rücksicht der ganzen Oekono-
mie, aber doch zu stark auf Einen Theil wir-
ken, und denselben mit Kraft überladen.

Eine andere Ansicht. Die plastische Natur
schafft das Gehirn als eine rohe Masse (tabula
rasa) aus einem thierischen Stoff, der ausser den
allgemeinen Eigenschaften thierischer Stoffe über-

der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantaſie
des Verrückten iſt, deſto weniger kommen die
Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewuſst-
ſeyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefeſſelt iſt,
deſto weniger können andere Platz gewinnen und
die fixirten verdrängen. Denn es iſt unbedingtes
Naturgeſetz, daſs die diſtributiven Aeuſserungen
der Lebenskraft in dem Maaſse erlöſchen, als
ihre Wirkſamkeit an einem Ort hervorſtechend
angeſtrengt wird. Nun wirken aber die körperli-
chen Excitatoren gleichmäſsig, alſo auch auf die
ſchon zu empfindlichen Saiten; die beruhigen-
den
Arzneien ſtimmen alles, auch die torpiden
Faſern, in gleichen Graden herunter. Man kann
allerdings den Raſenden durch Mohnſaft zur
Ruhe bringen, allein geſcheut iſt er deswegen
nicht, ſondern nur ein Narr anderer Art gewor-
den. Doch muſs man die Sthenie und Aſthenie
des Vegetationsſyſtems, welches auf das Ganze
einflieſst, nicht verwechſeln mit der eigenthüm-
lichen Energie, die das Gehirn, als ein ſchon
gebildeter Theil, unabhängig von demſelben, be-
ſitzt. Das Vegetationsſyſtem kann zwar zu
ſchwach ſeyn in Rückſicht der ganzen Oekono-
mie, aber doch zu ſtark auf Einen Theil wir-
ken, und denſelben mit Kraft überladen.

Eine andere Anſicht. Die plaſtiſche Natur
ſchafft das Gehirn als eine rohe Maſſe (tabula
raſa) aus einem thieriſchen Stoff, der auſser den
allgemeinen Eigenſchaften thieriſcher Stoffe über-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0052" n="47"/>
der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phanta&#x017F;ie<lb/>
des Verrückten i&#x017F;t, de&#x017F;to weniger kommen die<lb/>
Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewu&#x017F;st-<lb/>
&#x017F;eyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefe&#x017F;&#x017F;elt i&#x017F;t,<lb/>
de&#x017F;to weniger können andere Platz gewinnen und<lb/>
die fixirten verdrängen. Denn es i&#x017F;t unbedingtes<lb/>
Naturge&#x017F;etz, da&#x017F;s die di&#x017F;tributiven Aeu&#x017F;serungen<lb/>
der Lebenskraft in dem Maa&#x017F;se erlö&#x017F;chen, als<lb/>
ihre Wirk&#x017F;amkeit an einem Ort hervor&#x017F;techend<lb/>
ange&#x017F;trengt wird. Nun wirken aber die körperli-<lb/>
chen <hi rendition="#g">Excitatoren</hi> gleichmä&#x017F;sig, al&#x017F;o auch auf die<lb/>
&#x017F;chon zu empfindlichen Saiten; die <hi rendition="#g">beruhigen-<lb/>
den</hi> Arzneien &#x017F;timmen alles, auch die torpiden<lb/>
Fa&#x017F;ern, in gleichen Graden herunter. Man kann<lb/>
allerdings den Ra&#x017F;enden durch Mohn&#x017F;aft zur<lb/>
Ruhe bringen, allein ge&#x017F;cheut i&#x017F;t er deswegen<lb/>
nicht, &#x017F;ondern nur ein Narr anderer Art gewor-<lb/>
den. Doch mu&#x017F;s man die Sthenie und A&#x017F;thenie<lb/>
des Vegetations&#x017F;y&#x017F;tems, welches auf das Ganze<lb/>
einflie&#x017F;st, nicht verwech&#x017F;eln mit der eigenthüm-<lb/>
lichen Energie, die das Gehirn, als ein &#x017F;chon<lb/>
gebildeter Theil, unabhängig von dem&#x017F;elben, be-<lb/>
&#x017F;itzt. Das Vegetations&#x017F;y&#x017F;tem kann zwar zu<lb/>
&#x017F;chwach &#x017F;eyn in Rück&#x017F;icht der ganzen Oekono-<lb/>
mie, aber doch zu &#x017F;tark auf <hi rendition="#g">Einen</hi> Theil wir-<lb/>
ken, und den&#x017F;elben mit Kraft überladen.</p><lb/>
          <p>Eine andere An&#x017F;icht. Die pla&#x017F;ti&#x017F;che Natur<lb/>
&#x017F;chafft das Gehirn als eine <hi rendition="#g">rohe Ma&#x017F;&#x017F;e</hi> (tabula<lb/>
ra&#x017F;a) aus einem thieri&#x017F;chen Stoff, der au&#x017F;ser den<lb/>
allgemeinen Eigen&#x017F;chaften thieri&#x017F;cher Stoffe über-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0052] der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantaſie des Verrückten iſt, deſto weniger kommen die Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewuſst- ſeyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefeſſelt iſt, deſto weniger können andere Platz gewinnen und die fixirten verdrängen. Denn es iſt unbedingtes Naturgeſetz, daſs die diſtributiven Aeuſserungen der Lebenskraft in dem Maaſse erlöſchen, als ihre Wirkſamkeit an einem Ort hervorſtechend angeſtrengt wird. Nun wirken aber die körperli- chen Excitatoren gleichmäſsig, alſo auch auf die ſchon zu empfindlichen Saiten; die beruhigen- den Arzneien ſtimmen alles, auch die torpiden Faſern, in gleichen Graden herunter. Man kann allerdings den Raſenden durch Mohnſaft zur Ruhe bringen, allein geſcheut iſt er deswegen nicht, ſondern nur ein Narr anderer Art gewor- den. Doch muſs man die Sthenie und Aſthenie des Vegetationsſyſtems, welches auf das Ganze einflieſst, nicht verwechſeln mit der eigenthüm- lichen Energie, die das Gehirn, als ein ſchon gebildeter Theil, unabhängig von demſelben, be- ſitzt. Das Vegetationsſyſtem kann zwar zu ſchwach ſeyn in Rückſicht der ganzen Oekono- mie, aber doch zu ſtark auf Einen Theil wir- ken, und denſelben mit Kraft überladen. Eine andere Anſicht. Die plaſtiſche Natur ſchafft das Gehirn als eine rohe Maſſe (tabula raſa) aus einem thieriſchen Stoff, der auſser den allgemeinen Eigenſchaften thieriſcher Stoffe über-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/52
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/52>, abgerufen am 17.05.2024.