Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

gängelt wird. Nur hie und da weilt ein stiller
Beobachter, der reines Geistes ist, und in hohen
Gefühlen dich um deiner selbst willen zu um-
armen strebt. Mit spähendem Blick irrt er durch
die Räume deines unermesslichen Körpers zum
Focus hin, von welchem deine Ströhmungen ins
Weltall ausgehn, sich spalten und wieder zusam-
menschmelzen, diesen Widerstreit der Kräfte
durch alle Glieder, in den mannichfaltigsten Ver-
zweigungen nachweisen, und den ewig regen
Pulsschlag erhalten, der Leben in alle Adern der
Natur ausgeusst. Er ist es, dieser Zwiespalt der
Kräfte, der den Formentrieb im Chaos weckte,
das Weltall zu Körpern ballte, ihnen die Bahn
anwies, die sie Aeonen lang wandlen, dass sie
nicht in todte Eissteppen sich zusammendrängen
oder in den leeren Raum hinausranken und die
Lichtmagnete der Milchstrasse als eine ungeheure
Dunstwolke umlagern. Er ist es, in seinen zar-
testen und verwickeltsten Verhältnissen, der den
anorganischen Stoff hinaufsteigert aus der todten
Welt in die belebte. Leises Schritts wandelt sie
hier, die plastische Göttin Natur! und versucht
sich zuerst, gleichsam sich selbst nicht trauend,
in der einfachsten Forme der Organisation, die
sie in den Polypen ausprägt. Eine organische
Röhre, in ihr Vegetation und Gestalt, sich selbst
Mittel und Zweck, ein beschlossenes Ganze, die
erste und rohste Skitze der Individualität, ohne
Reflektionspunkte, eine zitternde Gallert, die

gängelt wird. Nur hie und da weilt ein ſtiller
Beobachter, der reines Geiſtes iſt, und in hohen
Gefühlen dich um deiner ſelbſt willen zu um-
armen ſtrebt. Mit ſpähendem Blick irrt er durch
die Räume deines unermeſslichen Körpers zum
Focus hin, von welchem deine Ströhmungen ins
Weltall ausgehn, ſich ſpalten und wieder zuſam-
menſchmelzen, dieſen Widerſtreit der Kräfte
durch alle Glieder, in den mannichfaltigſten Ver-
zweigungen nachweiſen, und den ewig regen
Pulsſchlag erhalten, der Leben in alle Adern der
Natur ausgeuſst. Er iſt es, dieſer Zwieſpalt der
Kräfte, der den Formentrieb im Chaos weckte,
das Weltall zu Körpern ballte, ihnen die Bahn
anwies, die ſie Aeonen lang wandlen, daſs ſie
nicht in todte Eisſteppen ſich zuſammendrängen
oder in den leeren Raum hinausranken und die
Lichtmagnete der Milchſtraſse als eine ungeheure
Dunſtwolke umlagern. Er iſt es, in ſeinen zar-
teſten und verwickeltſten Verhältniſſen, der den
anorganiſchen Stoff hinaufſteigert aus der todten
Welt in die belebte. Leiſes Schritts wandelt ſie
hier, die plaſtiſche Göttin Natur! und verſucht
ſich zuerſt, gleichſam ſich ſelbſt nicht trauend,
in der einfachſten Forme der Organiſation, die
ſie in den Polypen ausprägt. Eine organiſche
Röhre, in ihr Vegetation und Geſtalt, ſich ſelbſt
Mittel und Zweck, ein beſchloſſenes Ganze, die
erſte und rohſte Skitze der Individualität, ohne
Reflektionspunkte, eine zitternde Gallert, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0489" n="484"/>
gängelt wird. Nur hie und da weilt ein &#x017F;tiller<lb/>
Beobachter, der reines Gei&#x017F;tes i&#x017F;t, und in hohen<lb/>
Gefühlen dich um deiner &#x017F;elb&#x017F;t willen zu um-<lb/>
armen &#x017F;trebt. Mit &#x017F;pähendem Blick irrt er durch<lb/>
die Räume deines unerme&#x017F;slichen Körpers zum<lb/>
Focus hin, von welchem deine Ströhmungen ins<lb/>
Weltall ausgehn, &#x017F;ich &#x017F;palten und wieder zu&#x017F;am-<lb/>
men&#x017F;chmelzen, die&#x017F;en Wider&#x017F;treit der Kräfte<lb/>
durch alle Glieder, in den mannichfaltig&#x017F;ten Ver-<lb/>
zweigungen nachwei&#x017F;en, und den ewig regen<lb/>
Puls&#x017F;chlag erhalten, der Leben in alle Adern der<lb/>
Natur ausgeu&#x017F;st. Er i&#x017F;t es, die&#x017F;er Zwie&#x017F;palt der<lb/>
Kräfte, der den Formentrieb im Chaos weckte,<lb/>
das Weltall zu Körpern ballte, ihnen die Bahn<lb/>
anwies, die &#x017F;ie Aeonen lang wandlen, da&#x017F;s &#x017F;ie<lb/>
nicht in todte Eis&#x017F;teppen &#x017F;ich zu&#x017F;ammendrängen<lb/>
oder in den leeren Raum hinausranken und die<lb/>
Lichtmagnete der Milch&#x017F;tra&#x017F;se als eine ungeheure<lb/>
Dun&#x017F;twolke umlagern. Er i&#x017F;t es, in &#x017F;einen zar-<lb/>
te&#x017F;ten und verwickelt&#x017F;ten Verhältni&#x017F;&#x017F;en, der den<lb/>
anorgani&#x017F;chen Stoff hinauf&#x017F;teigert aus der todten<lb/>
Welt in die belebte. Lei&#x017F;es Schritts wandelt &#x017F;ie<lb/>
hier, die pla&#x017F;ti&#x017F;che Göttin Natur! und ver&#x017F;ucht<lb/>
&#x017F;ich zuer&#x017F;t, gleich&#x017F;am &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht trauend,<lb/>
in der einfach&#x017F;ten Forme der Organi&#x017F;ation, die<lb/>
&#x017F;ie in den Polypen ausprägt. Eine organi&#x017F;che<lb/>
Röhre, in ihr Vegetation und Ge&#x017F;talt, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
Mittel und Zweck, ein be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Ganze, die<lb/>
er&#x017F;te und roh&#x017F;te Skitze der Individualität, ohne<lb/>
Reflektionspunkte, eine zitternde Gallert, die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[484/0489] gängelt wird. Nur hie und da weilt ein ſtiller Beobachter, der reines Geiſtes iſt, und in hohen Gefühlen dich um deiner ſelbſt willen zu um- armen ſtrebt. Mit ſpähendem Blick irrt er durch die Räume deines unermeſslichen Körpers zum Focus hin, von welchem deine Ströhmungen ins Weltall ausgehn, ſich ſpalten und wieder zuſam- menſchmelzen, dieſen Widerſtreit der Kräfte durch alle Glieder, in den mannichfaltigſten Ver- zweigungen nachweiſen, und den ewig regen Pulsſchlag erhalten, der Leben in alle Adern der Natur ausgeuſst. Er iſt es, dieſer Zwieſpalt der Kräfte, der den Formentrieb im Chaos weckte, das Weltall zu Körpern ballte, ihnen die Bahn anwies, die ſie Aeonen lang wandlen, daſs ſie nicht in todte Eisſteppen ſich zuſammendrängen oder in den leeren Raum hinausranken und die Lichtmagnete der Milchſtraſse als eine ungeheure Dunſtwolke umlagern. Er iſt es, in ſeinen zar- teſten und verwickeltſten Verhältniſſen, der den anorganiſchen Stoff hinaufſteigert aus der todten Welt in die belebte. Leiſes Schritts wandelt ſie hier, die plaſtiſche Göttin Natur! und verſucht ſich zuerſt, gleichſam ſich ſelbſt nicht trauend, in der einfachſten Forme der Organiſation, die ſie in den Polypen ausprägt. Eine organiſche Röhre, in ihr Vegetation und Geſtalt, ſich ſelbſt Mittel und Zweck, ein beſchloſſenes Ganze, die erſte und rohſte Skitze der Individualität, ohne Reflektionspunkte, eine zitternde Gallert, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/489
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/489>, abgerufen am 22.11.2024.