Verletzungen derselben bestimmen die abnormen Handlungen des Melancholischen. Endlich liegen zwischen beiden noch andere automatische, aber scheinbar eigenmächtige Handlungen in der Mitte, deren Ursache ich Instinct oder blin- den Trieb nennen will, weil sie weder mit dem Gefühls- noch mit dem Vorstellungsvermö- gen zusammenhangen, und ohne Erkenntnisse eines Zwecks oder Objects entstehn. Sie sind gegründet in dem ursprünglichen Charakter, der dem Organismus eingeprägt ist, bey den norma- len Instinkten und Kunstfertigkeiten der Thiere, oder Folgen einer kranken Metamorphose des- selben, durch welche er eine andere Richtung, neue Reflektionspunkte und anomalische Bezie- hungen bekommen hat. Hier ist die Pathogenie der Wuth und Tobsucht zu suchen. Es giebt Menschen, die einen unwiderstehlichen Drang zu irgend einer Handlung haben, z. B. sich zum Fenster hinauszustürzen, obgleich die Sinnlich- keit und die Vernunft ihnen das Gegentheil ge- bieten. Diese können also nicht Ursache dersel- ben seyn, weil sie sich sonst selbst widersprechen würden. In der Hundswuth beisst der Mensch wider seinen Willen, und warnt daher seine Ver- wandten, sich für ihn zu hüten. Ich habe ein vierzehnjähriges Mädchen in der Kur gehabt, die an einer merkwürdigen Evolutionskrankheit litt, die aus einer Folge der sonderbarsten Nerven-Pas- sionen bestand. Sie hatte tonische und clonische,
Verletzungen derſelben beſtimmen die abnormen Handlungen des Melancholiſchen. Endlich liegen zwiſchen beiden noch andere automatiſche, aber ſcheinbar eigenmächtige Handlungen in der Mitte, deren Urſache ich Inſtinct oder blin- den Trieb nennen will, weil ſie weder mit dem Gefühls- noch mit dem Vorſtellungsvermö- gen zuſammenhangen, und ohne Erkenntniſſe eines Zwecks oder Objects entſtehn. Sie ſind gegründet in dem urſprünglichen Charakter, der dem Organiſmus eingeprägt iſt, bey den norma- len Inſtinkten und Kunſtfertigkeiten der Thiere, oder Folgen einer kranken Metamorphoſe deſ- ſelben, durch welche er eine andere Richtung, neue Reflektionspunkte und anomaliſche Bezie- hungen bekommen hat. Hier iſt die Pathogenie der Wuth und Tobſucht zu ſuchen. Es giebt Menſchen, die einen unwiderſtehlichen Drang zu irgend einer Handlung haben, z. B. ſich zum Fenſter hinauszuſtürzen, obgleich die Sinnlich- keit und die Vernunft ihnen das Gegentheil ge- bieten. Dieſe können alſo nicht Urſache derſel- ben ſeyn, weil ſie ſich ſonſt ſelbſt widerſprechen würden. In der Hundswuth beiſst der Menſch wider ſeinen Willen, und warnt daher ſeine Ver- wandten, ſich für ihn zu hüten. Ich habe ein vierzehnjähriges Mädchen in der Kur gehabt, die an einer merkwürdigen Evolutionskrankheit litt, die aus einer Folge der ſonderbarſten Nerven-Paſ- ſionen beſtand. Sie hatte toniſche und cloniſche,
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Verletzungen derſelben beſtimmen die abnormen
Handlungen des Melancholiſchen. Endlich liegen
zwiſchen beiden noch andere automatiſche,
aber ſcheinbar eigenmächtige Handlungen in der
Mitte, deren Urſache ich Inſtinct oder blin-
den Trieb nennen will, weil ſie weder mit
dem Gefühls- noch mit dem Vorſtellungsvermö-
gen zuſammenhangen, und ohne Erkenntniſſe
eines Zwecks oder Objects entſtehn. Sie ſind
gegründet in dem urſprünglichen Charakter, der
dem Organiſmus eingeprägt iſt, bey den norma-
len Inſtinkten und Kunſtfertigkeiten der Thiere,
oder Folgen einer kranken Metamorphoſe deſ-
ſelben, durch welche er eine andere Richtung,
neue Reflektionspunkte und anomaliſche Bezie-
hungen bekommen hat. Hier iſt die Pathogenie
der Wuth und Tobſucht zu ſuchen. Es giebt
Menſchen, die einen unwiderſtehlichen Drang zu
irgend einer Handlung haben, z. B. ſich zum
Fenſter hinauszuſtürzen, obgleich die Sinnlich-
keit und die Vernunft ihnen das Gegentheil ge-
bieten. Dieſe können alſo nicht Urſache derſel-
ben ſeyn, weil ſie ſich ſonſt ſelbſt widerſprechen
würden. In der Hundswuth beiſst der Menſch
wider ſeinen Willen, und warnt daher ſeine Ver-
wandten, ſich für ihn zu hüten. Ich habe ein
vierzehnjähriges Mädchen in der Kur gehabt, die
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die aus einer Folge der ſonderbarſten Nerven-Paſ-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/371>, abgerufen am 23.11.2024.
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