Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

lüstlinge bestechen die Gunst unerfahrner Mäd-
chen durch Geld oder vorgespiegelte Liebe, und
überlassen sie nachher ihrem Schicksale. Die
verführte Person härmt sich über den Betrug, oder
verfolgt die geöffnete Bahn, weil sie nichts weiter
an sich verderben kann. Sie stirbt im Spital, oder
wird eine Bewohnerin des Tollhauses. Beide
Arten, das Leben zu enden, sind gleich schauder-
haft. Ein direkter Mord ist nicht so quaalvoll,
als ein indirekter durch Wahnsinn oder Lustseu-
che und Knochenfrass. Und wie häufig ist we-
nigstens der letzte Fall! Ich kenne mittelmässige
Städte, die auf diese Art nach einem höchst wahr-
scheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig
Menschen verlieren. Sicher würden wir vor ei-
nem Ort zurückbeben, an welchem sich so viele
Meuchelmorde ereigneten! Freilich sollte man es
der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf
Glück, Ehre, Gesundheit und Leben zu ahnden,
denen der Mensch durch die Freiheit seines Wil-
lens ausweichen kann. Allein die Menschen,
von denen hier die Rede ist, kommen meistens
nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur
hat ihnen in Betreff der Liebe eine so schwache
Seite gelassen, dass sie einer Staats-Pallisade be-
dürfen.

Nahe verwandt mit der Liebe ist die Eifer-
sucht
, bey welcher Liebe und Hass, Achtung
und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit
einander in Kampf gerathen sind. Der Verstand

lüſtlinge beſtechen die Gunſt unerfahrner Mäd-
chen durch Geld oder vorgeſpiegelte Liebe, und
überlaſſen ſie nachher ihrem Schickſale. Die
verführte Perſon härmt ſich über den Betrug, oder
verfolgt die geöffnete Bahn, weil ſie nichts weiter
an ſich verderben kann. Sie ſtirbt im Spital, oder
wird eine Bewohnerin des Tollhauſes. Beide
Arten, das Leben zu enden, ſind gleich ſchauder-
haft. Ein direkter Mord iſt nicht ſo quaalvoll,
als ein indirekter durch Wahnſinn oder Luſtſeu-
che und Knochenfraſs. Und wie häufig iſt we-
nigſtens der letzte Fall! Ich kenne mittelmäſsige
Städte, die auf dieſe Art nach einem höchſt wahr-
ſcheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig
Menſchen verlieren. Sicher würden wir vor ei-
nem Ort zurückbeben, an welchem ſich ſo viele
Meuchelmorde ereigneten! Freilich ſollte man es
der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf
Glück, Ehre, Geſundheit und Leben zu ahnden,
denen der Menſch durch die Freiheit ſeines Wil-
lens ausweichen kann. Allein die Menſchen,
von denen hier die Rede iſt, kommen meiſtens
nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur
hat ihnen in Betreff der Liebe eine ſo ſchwache
Seite gelaſſen, daſs ſie einer Staats-Palliſade be-
dürfen.

Nahe verwandt mit der Liebe iſt die Eifer-
ſucht
, bey welcher Liebe und Haſs, Achtung
und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit
einander in Kampf gerathen ſind. Der Verſtand

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0355" n="350"/>&#x017F;tlinge be&#x017F;techen die Gun&#x017F;t unerfahrner Mäd-<lb/>
chen durch Geld oder vorge&#x017F;piegelte Liebe, und<lb/>
überla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie nachher ihrem Schick&#x017F;ale. Die<lb/>
verführte Per&#x017F;on härmt &#x017F;ich über den Betrug, oder<lb/>
verfolgt die geöffnete Bahn, weil &#x017F;ie nichts weiter<lb/>
an &#x017F;ich verderben kann. Sie &#x017F;tirbt im Spital, oder<lb/>
wird eine Bewohnerin des Tollhau&#x017F;es. Beide<lb/>
Arten, das Leben zu enden, &#x017F;ind gleich &#x017F;chauder-<lb/>
haft. Ein direkter Mord i&#x017F;t nicht &#x017F;o quaalvoll,<lb/>
als ein indirekter durch Wahn&#x017F;inn oder Lu&#x017F;t&#x017F;eu-<lb/>
che und Knochenfra&#x017F;s. Und wie häufig i&#x017F;t we-<lb/>
nig&#x017F;tens der letzte Fall! Ich kenne mittelmä&#x017F;sige<lb/>
Städte, die auf die&#x017F;e Art nach einem höch&#x017F;t wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig<lb/>
Men&#x017F;chen verlieren. Sicher würden wir vor ei-<lb/>
nem Ort zurückbeben, an welchem &#x017F;ich &#x017F;o viele<lb/>
Meuchelmorde ereigneten! Freilich &#x017F;ollte man es<lb/>
der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf<lb/>
Glück, Ehre, Ge&#x017F;undheit und Leben zu ahnden,<lb/>
denen der Men&#x017F;ch durch die Freiheit &#x017F;eines Wil-<lb/>
lens ausweichen kann. Allein die Men&#x017F;chen,<lb/>
von denen hier die Rede i&#x017F;t, kommen mei&#x017F;tens<lb/>
nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur<lb/>
hat ihnen in Betreff der Liebe eine &#x017F;o &#x017F;chwache<lb/>
Seite gela&#x017F;&#x017F;en, da&#x017F;s &#x017F;ie einer Staats-Palli&#x017F;ade be-<lb/>
dürfen.</p><lb/>
            <p>Nahe verwandt mit der Liebe i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Eifer-<lb/>
&#x017F;ucht</hi>, bey welcher Liebe und Ha&#x017F;s, Achtung<lb/>
und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit<lb/>
einander in Kampf gerathen &#x017F;ind. Der Ver&#x017F;tand<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[350/0355] lüſtlinge beſtechen die Gunſt unerfahrner Mäd- chen durch Geld oder vorgeſpiegelte Liebe, und überlaſſen ſie nachher ihrem Schickſale. Die verführte Perſon härmt ſich über den Betrug, oder verfolgt die geöffnete Bahn, weil ſie nichts weiter an ſich verderben kann. Sie ſtirbt im Spital, oder wird eine Bewohnerin des Tollhauſes. Beide Arten, das Leben zu enden, ſind gleich ſchauder- haft. Ein direkter Mord iſt nicht ſo quaalvoll, als ein indirekter durch Wahnſinn oder Luſtſeu- che und Knochenfraſs. Und wie häufig iſt we- nigſtens der letzte Fall! Ich kenne mittelmäſsige Städte, die auf dieſe Art nach einem höchſt wahr- ſcheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig Menſchen verlieren. Sicher würden wir vor ei- nem Ort zurückbeben, an welchem ſich ſo viele Meuchelmorde ereigneten! Freilich ſollte man es der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf Glück, Ehre, Geſundheit und Leben zu ahnden, denen der Menſch durch die Freiheit ſeines Wil- lens ausweichen kann. Allein die Menſchen, von denen hier die Rede iſt, kommen meiſtens nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur hat ihnen in Betreff der Liebe eine ſo ſchwache Seite gelaſſen, daſs ſie einer Staats-Palliſade be- dürfen. Nahe verwandt mit der Liebe iſt die Eifer- ſucht, bey welcher Liebe und Haſs, Achtung und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit einander in Kampf gerathen ſind. Der Verſtand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/355
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/355>, abgerufen am 23.11.2024.