Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Neigungen des Kranken und Aufmerksamkeit auf
jede seiner Aeusserungen nöthig. So entdeckte
Galen die Liebe einer römischen Dame zu dem
Schauspieler Pylades dadurch, dass ihre Ge-
sichtszüge sich veränderten, als einer in der Ge-
sellschaft seinen Namen zufällig nannte. Parge-
ter
*) nahm eine artige Wendung in einem solchen
Fall. Er fasste die schwermüthige Kranke beim
ersten Besuch scharf ins Auge, und sagte ihr, dass
er bereits vollkommen von der Ursache ihrer
Krankheit unterrichtet sey.

Wie soll man den Menschen für den nach-
theiligen Einfluss der Leidenschaften, besonders
in Hinsicht auf Geisteszerrüttungen sichern? Zu-
vörderst erstickt man sie nicht, sondern lässt sie
austoben. Sie sind gleich einem reissenden Strom,
der desto nachdrücklicher wüthet, je enger man
ihn eindämmt. Rache, wenn sie gesättiget, Lie-
be, wenn sie befriediget wird, sind weniger ge-
fährlich; der Traurige findet sich erleichtert,
wenn er weinen, der Zornige, wenn er seinen
Muth kühlen kann. Im Gegentheil ist der An-
griff der Leidenschaften auf unsere Gesundheit um
so nachdrücklicher, je stummer sie sind. Dann
kömmt sehr viel darauf an, so früh als möglich
zu Hülfe zu eilen, wenn man Gefahr ahndet.
Wahnsinn von Unglücks- und Todesfällen kann
man in der Regel verhüten, wenn man zur rech-

*) l. c. p. 37.

Neigungen des Kranken und Aufmerkſamkeit auf
jede ſeiner Aeuſserungen nöthig. So entdeckte
Galen die Liebe einer römiſchen Dame zu dem
Schauſpieler Pylades dadurch, daſs ihre Ge-
ſichtszüge ſich veränderten, als einer in der Ge-
ſellſchaft ſeinen Namen zufällig nannte. Parge-
ter
*) nahm eine artige Wendung in einem ſolchen
Fall. Er faſste die ſchwermüthige Kranke beim
erſten Beſuch ſcharf ins Auge, und ſagte ihr, daſs
er bereits vollkommen von der Urſache ihrer
Krankheit unterrichtet ſey.

Wie ſoll man den Menſchen für den nach-
theiligen Einfluſs der Leidenſchaften, beſonders
in Hinſicht auf Geiſteszerrüttungen ſichern? Zu-
vörderſt erſtickt man ſie nicht, ſondern läſst ſie
austoben. Sie ſind gleich einem reiſsenden Strom,
der deſto nachdrücklicher wüthet, je enger man
ihn eindämmt. Rache, wenn ſie geſättiget, Lie-
be, wenn ſie befriediget wird, ſind weniger ge-
fährlich; der Traurige findet ſich erleichtert,
wenn er weinen, der Zornige, wenn er ſeinen
Muth kühlen kann. Im Gegentheil iſt der An-
griff der Leidenſchaften auf unſere Geſundheit um
ſo nachdrücklicher, je ſtummer ſie ſind. Dann
kömmt ſehr viel darauf an, ſo früh als möglich
zu Hülfe zu eilen, wenn man Gefahr ahndet.
Wahnſinn von Unglücks- und Todesfällen kann
man in der Regel verhüten, wenn man zur rech-

*) l. c. p. 37.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0292" n="287"/>
Neigungen des Kranken und Aufmerk&#x017F;amkeit auf<lb/>
jede &#x017F;einer Aeu&#x017F;serungen nöthig. So entdeckte<lb/><hi rendition="#g">Galen</hi> die Liebe einer römi&#x017F;chen Dame zu dem<lb/>
Schau&#x017F;pieler <hi rendition="#g">Pylades</hi> dadurch, da&#x017F;s ihre Ge-<lb/>
&#x017F;ichtszüge &#x017F;ich veränderten, als einer in der Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;einen Namen zufällig nannte. <hi rendition="#g">Parge-<lb/>
ter</hi> <note place="foot" n="*)">l. c. p. 37.</note> nahm eine artige Wendung in einem &#x017F;olchen<lb/>
Fall. Er fa&#x017F;ste die &#x017F;chwermüthige Kranke beim<lb/>
er&#x017F;ten Be&#x017F;uch &#x017F;charf ins Auge, und &#x017F;agte ihr, da&#x017F;s<lb/>
er bereits vollkommen von der Ur&#x017F;ache ihrer<lb/>
Krankheit unterrichtet &#x017F;ey.</p><lb/>
          <p>Wie &#x017F;oll man den Men&#x017F;chen für den nach-<lb/>
theiligen Einflu&#x017F;s der Leiden&#x017F;chaften, be&#x017F;onders<lb/>
in Hin&#x017F;icht auf Gei&#x017F;teszerrüttungen &#x017F;ichern? Zu-<lb/>
vörder&#x017F;t er&#x017F;tickt man &#x017F;ie nicht, &#x017F;ondern lä&#x017F;st &#x017F;ie<lb/>
austoben. Sie &#x017F;ind gleich einem rei&#x017F;senden Strom,<lb/>
der de&#x017F;to nachdrücklicher wüthet, je enger man<lb/>
ihn eindämmt. Rache, wenn &#x017F;ie ge&#x017F;ättiget, Lie-<lb/>
be, wenn &#x017F;ie befriediget wird, &#x017F;ind weniger ge-<lb/>
fährlich; der Traurige findet &#x017F;ich erleichtert,<lb/>
wenn er weinen, der Zornige, wenn er &#x017F;einen<lb/>
Muth kühlen kann. Im Gegentheil i&#x017F;t der An-<lb/>
griff der Leiden&#x017F;chaften auf un&#x017F;ere Ge&#x017F;undheit um<lb/>
&#x017F;o nachdrücklicher, je &#x017F;tummer &#x017F;ie &#x017F;ind. Dann<lb/>
kömmt &#x017F;ehr viel darauf an, &#x017F;o früh als möglich<lb/>
zu Hülfe zu eilen, wenn man Gefahr ahndet.<lb/>
Wahn&#x017F;inn von Unglücks- und Todesfällen kann<lb/>
man in der Regel verhüten, wenn man zur rech-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0292] Neigungen des Kranken und Aufmerkſamkeit auf jede ſeiner Aeuſserungen nöthig. So entdeckte Galen die Liebe einer römiſchen Dame zu dem Schauſpieler Pylades dadurch, daſs ihre Ge- ſichtszüge ſich veränderten, als einer in der Ge- ſellſchaft ſeinen Namen zufällig nannte. Parge- ter *) nahm eine artige Wendung in einem ſolchen Fall. Er faſste die ſchwermüthige Kranke beim erſten Beſuch ſcharf ins Auge, und ſagte ihr, daſs er bereits vollkommen von der Urſache ihrer Krankheit unterrichtet ſey. Wie ſoll man den Menſchen für den nach- theiligen Einfluſs der Leidenſchaften, beſonders in Hinſicht auf Geiſteszerrüttungen ſichern? Zu- vörderſt erſtickt man ſie nicht, ſondern läſst ſie austoben. Sie ſind gleich einem reiſsenden Strom, der deſto nachdrücklicher wüthet, je enger man ihn eindämmt. Rache, wenn ſie geſättiget, Lie- be, wenn ſie befriediget wird, ſind weniger ge- fährlich; der Traurige findet ſich erleichtert, wenn er weinen, der Zornige, wenn er ſeinen Muth kühlen kann. Im Gegentheil iſt der An- griff der Leidenſchaften auf unſere Geſundheit um ſo nachdrücklicher, je ſtummer ſie ſind. Dann kömmt ſehr viel darauf an, ſo früh als möglich zu Hülfe zu eilen, wenn man Gefahr ahndet. Wahnſinn von Unglücks- und Todesfällen kann man in der Regel verhüten, wenn man zur rech- *) l. c. p. 37.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/292
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/292>, abgerufen am 23.11.2024.