bergen. Die Phantasie ist in der Cur der Ver- rücktheit dem Arzte vorzüglich wichtig. Sie übertrifft an Schnelligkeit, mit welcher sie Zeiten und Räume durchfliegt und an zügelloser Freiheit im kranken Zustande, die der eignen und fremden Kräfte spottet, alle andern Seelenkräfte. Daher die vielen furchtbaren Scenen ihrer tumultua- rischen Wirkung im Wahnsinn. In den Ideen- jagden producirt sie ihre Bilder mit einer Ge- schwindigkeit, dass den Kranken vor der Ansicht seiner eignen Werke schwindelt; in der Catalepsie starrt sie, wie angeschmiedet, auf ein Object hin; in andern Fällen stellt sie ihre Bilder in einem so starken Colorit auf, dass der Kranke dieselben von realen Objekten nicht unterscheidet und aus der wirklichen Welt in ein Feenland seiner eignen Träumereien versetzt wird. Dann ist die Phan- tasie dem Arzte auch noch in der Rücksicht merk- würdig, sofern ein grosser Theil der psychischen Mittel durch sie zur Thätigkeit gelangen muss. Sie sollte noch besonders in Kranken, denen ein Sinn fehlt, in allen ihren Verhältnissen, als Gedächtniss, als Dichtungsvermögen, im Traum, im fieberhaften Irrereden beobachtet werden. Ein Blindgebohrner stellte alle Bilder der Phantasie unter der Form der Anschauungen des Getastes und Gehörs vor. Er träumte wie er fühlte und hörte. Die Personen im Traum unterschied er nach dem verschiednen Ton ihrer Stimmen, die Sonne dachte er sich als eine glatte und heisse
bergen. Die Phantaſie iſt in der Cur der Ver- rücktheit dem Arzte vorzüglich wichtig. Sie übertrifft an Schnelligkeit, mit welcher ſie Zeiten und Räume durchfliegt und an zügelloſer Freiheit im kranken Zuſtande, die der eignen und fremden Kräfte ſpottet, alle andern Seelenkräfte. Daher die vielen furchtbaren Scenen ihrer tumultua- riſchen Wirkung im Wahnſinn. In den Ideen- jagden producirt ſie ihre Bilder mit einer Ge- ſchwindigkeit, daſs den Kranken vor der Anſicht ſeiner eignen Werke ſchwindelt; in der Catalepſie ſtarrt ſie, wie angeſchmiedet, auf ein Object hin; in andern Fällen ſtellt ſie ihre Bilder in einem ſo ſtarken Colorit auf, daſs der Kranke dieſelben von realen Objekten nicht unterſcheidet und aus der wirklichen Welt in ein Feenland ſeiner eignen Träumereien verſetzt wird. Dann iſt die Phan- taſie dem Arzte auch noch in der Rückſicht merk- würdig, ſofern ein groſser Theil der pſychiſchen Mittel durch ſie zur Thätigkeit gelangen muſs. Sie ſollte noch beſonders in Kranken, denen ein Sinn fehlt, in allen ihren Verhältniſſen, als Gedächtniſs, als Dichtungsvermögen, im Traum, im fieberhaften Irrereden beobachtet werden. Ein Blindgebohrner ſtellte alle Bilder der Phantaſie unter der Form der Anſchauungen des Getaſtes und Gehörs vor. Er träumte wie er fühlte und hörte. Die Perſonen im Traum unterſchied er nach dem verſchiednen Ton ihrer Stimmen, die Sonne dachte er ſich als eine glatte und heiſse
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bergen. Die Phantaſie iſt in der Cur der Ver-
rücktheit dem Arzte vorzüglich wichtig. Sie
übertrifft an Schnelligkeit, mit welcher ſie Zeiten
und Räume durchfliegt und an zügelloſer Freiheit
im kranken Zuſtande, die der eignen und fremden
Kräfte ſpottet, alle andern Seelenkräfte. Daher
die vielen furchtbaren Scenen ihrer tumultua-
riſchen Wirkung im Wahnſinn. In den Ideen-
jagden producirt ſie ihre Bilder mit einer Ge-
ſchwindigkeit, daſs den Kranken vor der Anſicht
ſeiner eignen Werke ſchwindelt; in der Catalepſie
ſtarrt ſie, wie angeſchmiedet, auf ein Object hin;
in andern Fällen ſtellt ſie ihre Bilder in einem ſo
ſtarken Colorit auf, daſs der Kranke dieſelben
von realen Objekten nicht unterſcheidet und aus
der wirklichen Welt in ein Feenland ſeiner eignen
Träumereien verſetzt wird. Dann iſt die Phan-
taſie dem Arzte auch noch in der Rückſicht merk-
würdig, ſofern ein groſser Theil der pſychiſchen
Mittel durch ſie zur Thätigkeit gelangen muſs.
Sie ſollte noch beſonders in Kranken, denen ein
Sinn fehlt, in allen ihren Verhältniſſen, als
Gedächtniſs, als Dichtungsvermögen, im Traum,
im fieberhaften Irrereden beobachtet werden. Ein
Blindgebohrner ſtellte alle Bilder der Phantaſie
unter der Form der Anſchauungen des Getaſtes
und Gehörs vor. Er träumte wie er fühlte und
hörte. Die Perſonen im Traum unterſchied er
nach dem verſchiednen Ton ihrer Stimmen, die
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/282>, abgerufen am 28.11.2024.
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