Sinne in Rückficht ihrer körperlichen Natur sich bloss dadurch unterscheiden, dass die Nervenwir- kungen in entgegengesetzten Richtungen, bey jener von Innen gegen die Peripherie durch die Sinnesnerven, bey diesen von der Peripherie zum Inneren statt haben. In den Bewegungsnerven ist diese auf- und niedersteigende Wirkung offenbar, sie wirken von Pole zu Pole, vom Gehirn zur Peripherie und rückwärts. Warum ist das nem- liche nicht auch in den Sinnesnerven möglich? Ueberhaupt ist es noch die Frage, ob nicht bey jedem Wirken des Gehirns, auch bey dem, das man gewöhnlich auf dasselbe beschränkt, nemlich beim Imaginiren, Denken und Wollen, eine Fort- pflanzung gegen die Peripherie, ein Strömen vom Mittelpunkt in alle Nerven, gleichsam eine Entla- dung durch tausend Ableiter stattfinde? Warum kommen die Vorgänge im innersten Heiligthum so deutlich an der Oberfläche, durch die Span- nung der Augen, durch die Physiognomie und Haltung des ganzen Körpers zu Tage, dass die Mahler jene durch diese vorzustellen im Stande sind? Die Haltung des Körpers ist zwar zunächst Product der Stellung des Muskelsystems. Allein was stellt das Muskelsystem in so unendlich ver- schiedene und ausdrucksvolle Formen? Zuver- lässig die Nerven; und diese müssen dazu vom Gehirn erregt seyn. Je stärker die Hirnwirkun- gen sind, z. B. Behufs der Leidenschaften, desto weniger ist die Oberfläche im Stande sie zu ver-
Sinne in Rückficht ihrer körperlichen Natur ſich bloſs dadurch unterſcheiden, daſs die Nervenwir- kungen in entgegengeſetzten Richtungen, bey jener von Innen gegen die Peripherie durch die Sinnesnerven, bey dieſen von der Peripherie zum Inneren ſtatt haben. In den Bewegungsnerven iſt dieſe auf- und niederſteigende Wirkung offenbar, ſie wirken von Pole zu Pole, vom Gehirn zur Peripherie und rückwärts. Warum iſt das nem- liche nicht auch in den Sinnesnerven möglich? Ueberhaupt iſt es noch die Frage, ob nicht bey jedem Wirken des Gehirns, auch bey dem, das man gewöhnlich auf daſſelbe beſchränkt, nemlich beim Imaginiren, Denken und Wollen, eine Fort- pflanzung gegen die Peripherie, ein Strömen vom Mittelpunkt in alle Nerven, gleichſam eine Entla- dung durch tauſend Ableiter ſtattfinde? Warum kommen die Vorgänge im innerſten Heiligthum ſo deutlich an der Oberfläche, durch die Span- nung der Augen, durch die Phyſiognomie und Haltung des ganzen Körpers zu Tage, daſs die Mahler jene durch dieſe vorzuſtellen im Stande ſind? Die Haltung des Körpers iſt zwar zunächſt Product der Stellung des Muskelſyſtems. Allein was ſtellt das Muskelſyſtem in ſo unendlich ver- ſchiedene und ausdrucksvolle Formen? Zuver- läſſig die Nerven; und dieſe müſſen dazu vom Gehirn erregt ſeyn. Je ſtärker die Hirnwirkun- gen ſind, z. B. Behufs der Leidenſchaften, deſto weniger iſt die Oberfläche im Stande ſie zu ver-
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Sinne in Rückficht ihrer körperlichen Natur ſich
bloſs dadurch unterſcheiden, daſs die Nervenwir-
kungen in entgegengeſetzten Richtungen, bey
jener von Innen gegen die Peripherie durch die
Sinnesnerven, bey dieſen von der Peripherie zum
Inneren ſtatt haben. In den Bewegungsnerven iſt
dieſe auf- und niederſteigende Wirkung offenbar,
ſie wirken von Pole zu Pole, vom Gehirn zur
Peripherie und rückwärts. Warum iſt das nem-
liche nicht auch in den Sinnesnerven möglich?
Ueberhaupt iſt es noch die Frage, ob nicht bey
jedem Wirken des Gehirns, auch bey dem, das
man gewöhnlich auf daſſelbe beſchränkt, nemlich
beim Imaginiren, Denken und Wollen, eine Fort-
pflanzung gegen die Peripherie, ein Strömen vom
Mittelpunkt in alle Nerven, gleichſam eine Entla-
dung durch tauſend Ableiter ſtattfinde? Warum
kommen die Vorgänge im innerſten Heiligthum
ſo deutlich an der Oberfläche, durch die Span-
nung der Augen, durch die Phyſiognomie und
Haltung des ganzen Körpers zu Tage, daſs die
Mahler jene durch dieſe vorzuſtellen im Stande
ſind? Die Haltung des Körpers iſt zwar zunächſt
Product der Stellung des Muskelſyſtems. Allein
was ſtellt das Muskelſyſtem in ſo unendlich ver-
ſchiedene und ausdrucksvolle Formen? Zuver-
läſſig die Nerven; und dieſe müſſen dazu vom
Gehirn erregt ſeyn. Je ſtärker die Hirnwirkun-
gen ſind, z. B. Behufs der Leidenſchaften, deſto
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/281>, abgerufen am 26.11.2024.
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