Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

scheint zwar, als könne bey einer Verkehrtheit
der Seelenkräfte keine Regelmässigkeit der Hand-
lungen zu Stande kommen. Allein dies ist blosser
Schein. Denn sie sind nicht unbedingt abhängig
von den eigenmächtigen Entschlüssen der Seele,
sondern können durch Zwangsmittel gleichsam
ausser Verbindung mit dem eignen Willen gesetzt
werden. In der Folge wird die ursprünglich er-
zwungene Ordnung durch Gewohnheit zur me-
chanischen Fertigkeit. Der Verstand ist verkehrt;
das Handlen regelmässig. Zum Behuf dieses
Zwecks muss man, nachdem vorher der Kranke
unterjocht ist, streng auf die gegebenen Vorschrif-
ten halten, und nie, selbst in den unbedeutendsten
Kleinigkeiten, eine Ausnahme verstatten. Im
Spital muss Regel, Reinlichkeit, Gerechtigkeit
und Sittlichkeit herrschen. Dies Vorbild wirkt
auf den Kranken und macht es ihm leicht, sich
an die nemliche Ordnung zu gewöhnen, die er
überall um sich verbreitet sieht. Und welche
Vortheile gewinnen wir dadurch? In der That
keine geringen. Der Kranke bleibt gesund,
sein Gehorsam wird zur Gewohnheit; die Wärter
können ihn leichter pflegen und die Ordnung des
Spitals erhalten. Sollte man ihn endlich als un-
heilbar an die Aufbewahrungsanstalt abgeben
müssen: so ist er für dieselbe vortrefflich vorberei-
tet. Denn kein Anblick ist empörender als die
chaotische Verwirrung, in welcher die Kranken
in den meisten Tollhäusern durch einander schwir-

ſcheint zwar, als könne bey einer Verkehrtheit
der Seelenkräfte keine Regelmäſsigkeit der Hand-
lungen zu Stande kommen. Allein dies iſt bloſser
Schein. Denn ſie ſind nicht unbedingt abhängig
von den eigenmächtigen Entſchlüſſen der Seele,
ſondern können durch Zwangsmittel gleichſam
auſser Verbindung mit dem eignen Willen geſetzt
werden. In der Folge wird die urſprünglich er-
zwungene Ordnung durch Gewohnheit zur me-
chaniſchen Fertigkeit. Der Verſtand iſt verkehrt;
das Handlen regelmäſsig. Zum Behuf dieſes
Zwecks muſs man, nachdem vorher der Kranke
unterjocht iſt, ſtreng auf die gegebenen Vorſchrif-
ten halten, und nie, ſelbſt in den unbedeutendſten
Kleinigkeiten, eine Ausnahme verſtatten. Im
Spital muſs Regel, Reinlichkeit, Gerechtigkeit
und Sittlichkeit herrſchen. Dies Vorbild wirkt
auf den Kranken und macht es ihm leicht, ſich
an die nemliche Ordnung zu gewöhnen, die er
überall um ſich verbreitet ſieht. Und welche
Vortheile gewinnen wir dadurch? In der That
keine geringen. Der Kranke bleibt geſund,
ſein Gehorſam wird zur Gewohnheit; die Wärter
können ihn leichter pflegen und die Ordnung des
Spitals erhalten. Sollte man ihn endlich als un-
heilbar an die Aufbewahrungsanſtalt abgeben
müſſen: ſo iſt er für dieſelbe vortrefflich vorberei-
tet. Denn kein Anblick iſt empörender als die
chaotiſche Verwirrung, in welcher die Kranken
in den meiſten Tollhäuſern durch einander ſchwir-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0238" n="233"/>
&#x017F;cheint zwar, als könne bey einer Verkehrtheit<lb/>
der Seelenkräfte keine Regelmä&#x017F;sigkeit der Hand-<lb/>
lungen zu Stande kommen. Allein dies i&#x017F;t blo&#x017F;ser<lb/>
Schein. Denn &#x017F;ie &#x017F;ind nicht unbedingt abhängig<lb/>
von den eigenmächtigen Ent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en der Seele,<lb/>
&#x017F;ondern können durch Zwangsmittel gleich&#x017F;am<lb/>
au&#x017F;ser Verbindung mit dem eignen Willen ge&#x017F;etzt<lb/>
werden. In der Folge wird die ur&#x017F;prünglich er-<lb/>
zwungene Ordnung durch Gewohnheit zur me-<lb/>
chani&#x017F;chen Fertigkeit. Der Ver&#x017F;tand i&#x017F;t verkehrt;<lb/>
das Handlen regelmä&#x017F;sig. Zum Behuf die&#x017F;es<lb/>
Zwecks mu&#x017F;s man, nachdem vorher der Kranke<lb/>
unterjocht i&#x017F;t, &#x017F;treng auf die gegebenen Vor&#x017F;chrif-<lb/>
ten halten, und nie, &#x017F;elb&#x017F;t in den unbedeutend&#x017F;ten<lb/>
Kleinigkeiten, eine Ausnahme ver&#x017F;tatten. Im<lb/>
Spital mu&#x017F;s Regel, Reinlichkeit, Gerechtigkeit<lb/>
und Sittlichkeit herr&#x017F;chen. Dies Vorbild wirkt<lb/>
auf den Kranken und macht es ihm leicht, &#x017F;ich<lb/>
an die nemliche Ordnung zu gewöhnen, die er<lb/>
überall um &#x017F;ich verbreitet &#x017F;ieht. Und welche<lb/>
Vortheile gewinnen wir dadurch? In der That<lb/>
keine geringen. Der Kranke bleibt ge&#x017F;und,<lb/>
&#x017F;ein Gehor&#x017F;am wird zur Gewohnheit; die Wärter<lb/>
können ihn leichter pflegen und die Ordnung des<lb/>
Spitals erhalten. Sollte man ihn endlich als un-<lb/>
heilbar an die Aufbewahrungsan&#x017F;talt abgeben<lb/>
mü&#x017F;&#x017F;en: &#x017F;o i&#x017F;t er für die&#x017F;elbe vortrefflich vorberei-<lb/>
tet. Denn kein Anblick i&#x017F;t empörender als die<lb/>
chaoti&#x017F;che Verwirrung, in welcher die Kranken<lb/>
in den mei&#x017F;ten Tollhäu&#x017F;ern durch einander &#x017F;chwir-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0238] ſcheint zwar, als könne bey einer Verkehrtheit der Seelenkräfte keine Regelmäſsigkeit der Hand- lungen zu Stande kommen. Allein dies iſt bloſser Schein. Denn ſie ſind nicht unbedingt abhängig von den eigenmächtigen Entſchlüſſen der Seele, ſondern können durch Zwangsmittel gleichſam auſser Verbindung mit dem eignen Willen geſetzt werden. In der Folge wird die urſprünglich er- zwungene Ordnung durch Gewohnheit zur me- chaniſchen Fertigkeit. Der Verſtand iſt verkehrt; das Handlen regelmäſsig. Zum Behuf dieſes Zwecks muſs man, nachdem vorher der Kranke unterjocht iſt, ſtreng auf die gegebenen Vorſchrif- ten halten, und nie, ſelbſt in den unbedeutendſten Kleinigkeiten, eine Ausnahme verſtatten. Im Spital muſs Regel, Reinlichkeit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit herrſchen. Dies Vorbild wirkt auf den Kranken und macht es ihm leicht, ſich an die nemliche Ordnung zu gewöhnen, die er überall um ſich verbreitet ſieht. Und welche Vortheile gewinnen wir dadurch? In der That keine geringen. Der Kranke bleibt geſund, ſein Gehorſam wird zur Gewohnheit; die Wärter können ihn leichter pflegen und die Ordnung des Spitals erhalten. Sollte man ihn endlich als un- heilbar an die Aufbewahrungsanſtalt abgeben müſſen: ſo iſt er für dieſelbe vortrefflich vorberei- tet. Denn kein Anblick iſt empörender als die chaotiſche Verwirrung, in welcher die Kranken in den meiſten Tollhäuſern durch einander ſchwir-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/238
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/238>, abgerufen am 04.05.2024.