Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

bindung mit ihren Bekannten ab. Schon deswe-
gen sollte man es nicht verstatten, dass auch die
Tollhäuser der Neugierde zum Tummelplatz und
dem Müssiggang zum Zeitvertreib dienen müssen.
Die Officianten könnten eine unbekannte und
sonore Sprache reden. Der Kranke glaubt dann,
unter fremde Nationen gerathen zu seyn. Dies
macht ihn muthloser. Er wird die Blössen der-
selben nicht so leicht gewahr, die er zu entdecken
meistens noch schlau genug ist, und vermuthet hin-
ter unverständlichen Tönen mehr Weisheit, als sie
wirklich andeuten. Daher, sagt Willis, wer-
den Fremde, die auch nicht einmal die Sprache
des Tollhauses verstehn, unter gleichen Umstän-
den leichter geheilt als Einländer, weil sie voll-
kommner isolirt sind. Ferner kommt sehr viel
auf Körperbau, Gang, Geberden, Stimme und
auf den festen und durchdringenden Blick der
Vorgesetzten an. Des D. Willis Miene soll
gewöhnlich freundlich und leutseelig seyn, aber
sich augenblicklich verändern, wenn er einen
Kranken zum erstenmale ansichtig wird. Er ge-
bietet demselben Ehrfurcht durch sein Ansehn und
fasst ihn scharf ins Auge, als könnte er alle Ge-
heimnisse aus dem Herzen desselben ans Tageslicht
hervorlocken. So gewinnt er augenblicklich
eine Herrschaft über den Kranken, die er hernach
mit Vortheil zu seiner Heilung gebraucht. In der
Folge lenkt er ein, vertauscht seinen Ernst mit
Leutseeligkeit, die Strenge mit Güte und zieht

bindung mit ihren Bekannten ab. Schon deswe-
gen ſollte man es nicht verſtatten, daſs auch die
Tollhäuſer der Neugierde zum Tummelplatz und
dem Müſsiggang zum Zeitvertreib dienen müſſen.
Die Officianten könnten eine unbekannte und
ſonore Sprache reden. Der Kranke glaubt dann,
unter fremde Nationen gerathen zu ſeyn. Dies
macht ihn muthloſer. Er wird die Blöſsen der-
ſelben nicht ſo leicht gewahr, die er zu entdecken
meiſtens noch ſchlau genug iſt, und vermuthet hin-
ter unverſtändlichen Tönen mehr Weisheit, als ſie
wirklich andeuten. Daher, ſagt Willis, wer-
den Fremde, die auch nicht einmal die Sprache
des Tollhauſes verſtehn, unter gleichen Umſtän-
den leichter geheilt als Einländer, weil ſie voll-
kommner iſolirt ſind. Ferner kommt ſehr viel
auf Körperbau, Gang, Geberden, Stimme und
auf den feſten und durchdringenden Blick der
Vorgeſetzten an. Des D. Willis Miene ſoll
gewöhnlich freundlich und leutſeelig ſeyn, aber
ſich augenblicklich verändern, wenn er einen
Kranken zum erſtenmale anſichtig wird. Er ge-
bietet demſelben Ehrfurcht durch ſein Anſehn und
faſst ihn ſcharf ins Auge, als könnte er alle Ge-
heimniſſe aus dem Herzen deſſelben ans Tageslicht
hervorlocken. So gewinnt er augenblicklich
eine Herrſchaft über den Kranken, die er hernach
mit Vortheil zu ſeiner Heilung gebraucht. In der
Folge lenkt er ein, vertauſcht ſeinen Ernſt mit
Leutſeeligkeit, die Strenge mit Güte und zieht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0231" n="226"/>
bindung mit ihren Bekannten ab. Schon deswe-<lb/>
gen &#x017F;ollte man es nicht ver&#x017F;tatten, da&#x017F;s auch die<lb/>
Tollhäu&#x017F;er der Neugierde zum Tummelplatz und<lb/>
dem Mü&#x017F;siggang zum Zeitvertreib dienen mü&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Die Officianten könnten eine unbekannte und<lb/>
&#x017F;onore Sprache reden. Der Kranke glaubt dann,<lb/>
unter fremde Nationen gerathen zu &#x017F;eyn. Dies<lb/>
macht ihn muthlo&#x017F;er. Er wird die Blö&#x017F;sen der-<lb/>
&#x017F;elben nicht &#x017F;o leicht gewahr, die er zu entdecken<lb/>
mei&#x017F;tens noch &#x017F;chlau genug i&#x017F;t, und vermuthet hin-<lb/>
ter unver&#x017F;tändlichen Tönen mehr Weisheit, als &#x017F;ie<lb/>
wirklich andeuten. Daher, &#x017F;agt <hi rendition="#g">Willis</hi>, wer-<lb/>
den Fremde, die auch nicht einmal die Sprache<lb/>
des Tollhau&#x017F;es ver&#x017F;tehn, unter gleichen Um&#x017F;tän-<lb/>
den leichter geheilt als Einländer, weil &#x017F;ie voll-<lb/>
kommner i&#x017F;olirt &#x017F;ind. Ferner kommt &#x017F;ehr viel<lb/>
auf Körperbau, Gang, Geberden, Stimme und<lb/>
auf den fe&#x017F;ten und durchdringenden Blick der<lb/>
Vorge&#x017F;etzten an. Des D. <hi rendition="#g">Willis</hi> Miene &#x017F;oll<lb/>
gewöhnlich freundlich und leut&#x017F;eelig &#x017F;eyn, aber<lb/>
&#x017F;ich augenblicklich verändern, wenn er einen<lb/>
Kranken zum er&#x017F;tenmale an&#x017F;ichtig wird. Er ge-<lb/>
bietet dem&#x017F;elben Ehrfurcht durch &#x017F;ein An&#x017F;ehn und<lb/>
fa&#x017F;st ihn &#x017F;charf ins Auge, als könnte er alle Ge-<lb/>
heimni&#x017F;&#x017F;e aus dem Herzen de&#x017F;&#x017F;elben ans Tageslicht<lb/>
hervorlocken. So gewinnt er augenblicklich<lb/>
eine Herr&#x017F;chaft über den Kranken, die er hernach<lb/>
mit Vortheil zu &#x017F;einer Heilung gebraucht. In der<lb/>
Folge lenkt er ein, vertau&#x017F;cht &#x017F;einen Ern&#x017F;t mit<lb/>
Leut&#x017F;eeligkeit, die Strenge mit Güte und zieht<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[226/0231] bindung mit ihren Bekannten ab. Schon deswe- gen ſollte man es nicht verſtatten, daſs auch die Tollhäuſer der Neugierde zum Tummelplatz und dem Müſsiggang zum Zeitvertreib dienen müſſen. Die Officianten könnten eine unbekannte und ſonore Sprache reden. Der Kranke glaubt dann, unter fremde Nationen gerathen zu ſeyn. Dies macht ihn muthloſer. Er wird die Blöſsen der- ſelben nicht ſo leicht gewahr, die er zu entdecken meiſtens noch ſchlau genug iſt, und vermuthet hin- ter unverſtändlichen Tönen mehr Weisheit, als ſie wirklich andeuten. Daher, ſagt Willis, wer- den Fremde, die auch nicht einmal die Sprache des Tollhauſes verſtehn, unter gleichen Umſtän- den leichter geheilt als Einländer, weil ſie voll- kommner iſolirt ſind. Ferner kommt ſehr viel auf Körperbau, Gang, Geberden, Stimme und auf den feſten und durchdringenden Blick der Vorgeſetzten an. Des D. Willis Miene ſoll gewöhnlich freundlich und leutſeelig ſeyn, aber ſich augenblicklich verändern, wenn er einen Kranken zum erſtenmale anſichtig wird. Er ge- bietet demſelben Ehrfurcht durch ſein Anſehn und faſst ihn ſcharf ins Auge, als könnte er alle Ge- heimniſſe aus dem Herzen deſſelben ans Tageslicht hervorlocken. So gewinnt er augenblicklich eine Herrſchaft über den Kranken, die er hernach mit Vortheil zu ſeiner Heilung gebraucht. In der Folge lenkt er ein, vertauſcht ſeinen Ernſt mit Leutſeeligkeit, die Strenge mit Güte und zieht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/231
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/231>, abgerufen am 04.05.2024.