Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Drittes Buch. Drittes Capitel.
oder das Gemeingefühl zu entbinden, festzuhalten: durch die
Melodie erst geschah das, in der sich die alten Kirchen-
tonarten mit ihrem Ernst, und die anmuthenden Weisen
des Volksliedes durchdrangen. So entstand das evange-
lische Kirchenlied. In das Jahr 1523 müssen wir seinen
Ursprung setzen. 1 Einzelne Lieder, von Spretten oder von
Luther, fanden sogleich eine allgemeine Verbreitung: in diesen
frühesten Bewegungen des reformatorischen Geistes wirkten
sie mit; aber erst einige Jahrzehnde später entfaltete der
deutsche Geist seinen ganzen Reichthum poetischer und be-
sonders musikalischer Production in dieser Gattung.

Und auch übrigens widmete sich die volksthümliche
Poesie mit dem Geiste der Lehrhaftigkeit und der Opposi-
tion, der ihr überhaupt eigen war, den aufkommenden Ideen.
Schon Hutten hatte seine bittersten Anklagen in Reime ge-
worfen: das Verderben der Geistlichkeit hatte Murner in
langen, anschaulichen Beschreibungen geschildert; der Ver-
werfung und dem Tadel gesellte sich jetzt, wenn nicht bei
Murner, doch bei der Mehrzahl der Andern, die positive
Überzeugung, die Bewunderung des Vorkämpfers hinzu.
Da ward der Mann gepriesen, der inmitten der rothen
Barette und Sammetschauben die gerechte Lehre behauptet.
In Fastnachtsspielen erscheint der Papst, der sich freut daß

1 Riederer: von Einführung des deutschen Gesanges p. 95.
Das merkwürdige Schreiben an Spalatin, über eine Bearbeitung
der Psalmen in deutschen Versen, bei de Wette II, p. 490 ist ohne
Zweifel früher als das vom 14ten Januar 1524 datirte ib. p. 461.
Da sieht man erst, was die Musae germanicae, worüber de Wette
in Zweifel ist, sagen wollen. Aus den Briefen an Hausmann er-
giebt sich, daß Luther im Nov. und Dez. 1523 mit der Abfassung
der Liturgie umgieng.

Drittes Buch. Drittes Capitel.
oder das Gemeingefühl zu entbinden, feſtzuhalten: durch die
Melodie erſt geſchah das, in der ſich die alten Kirchen-
tonarten mit ihrem Ernſt, und die anmuthenden Weiſen
des Volksliedes durchdrangen. So entſtand das evange-
liſche Kirchenlied. In das Jahr 1523 müſſen wir ſeinen
Urſprung ſetzen. 1 Einzelne Lieder, von Spretten oder von
Luther, fanden ſogleich eine allgemeine Verbreitung: in dieſen
früheſten Bewegungen des reformatoriſchen Geiſtes wirkten
ſie mit; aber erſt einige Jahrzehnde ſpäter entfaltete der
deutſche Geiſt ſeinen ganzen Reichthum poetiſcher und be-
ſonders muſikaliſcher Production in dieſer Gattung.

Und auch übrigens widmete ſich die volksthümliche
Poeſie mit dem Geiſte der Lehrhaftigkeit und der Oppoſi-
tion, der ihr überhaupt eigen war, den aufkommenden Ideen.
Schon Hutten hatte ſeine bitterſten Anklagen in Reime ge-
worfen: das Verderben der Geiſtlichkeit hatte Murner in
langen, anſchaulichen Beſchreibungen geſchildert; der Ver-
werfung und dem Tadel geſellte ſich jetzt, wenn nicht bei
Murner, doch bei der Mehrzahl der Andern, die poſitive
Überzeugung, die Bewunderung des Vorkämpfers hinzu.
Da ward der Mann geprieſen, der inmitten der rothen
Barette und Sammetſchauben die gerechte Lehre behauptet.
In Faſtnachtsſpielen erſcheint der Papſt, der ſich freut daß

1 Riederer: von Einfuͤhrung des deutſchen Geſanges p. 95.
Das merkwuͤrdige Schreiben an Spalatin, uͤber eine Bearbeitung
der Pſalmen in deutſchen Verſen, bei de Wette II, p. 490 iſt ohne
Zweifel fruͤher als das vom 14ten Januar 1524 datirte ib. p. 461.
Da ſieht man erſt, was die Musae germanicae, woruͤber de Wette
in Zweifel iſt, ſagen wollen. Aus den Briefen an Hausmann er-
giebt ſich, daß Luther im Nov. und Dez. 1523 mit der Abfaſſung
der Liturgie umgieng.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0092" n="82"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Drittes Buch. Drittes Capitel</hi>.</fw><lb/>
oder das Gemeingefühl zu entbinden, fe&#x017F;tzuhalten: durch die<lb/>
Melodie er&#x017F;t ge&#x017F;chah das, in der &#x017F;ich die alten Kirchen-<lb/>
tonarten mit ihrem Ern&#x017F;t, und die anmuthenden Wei&#x017F;en<lb/>
des Volksliedes durchdrangen. So ent&#x017F;tand das evange-<lb/>
li&#x017F;che Kirchenlied. In das Jahr 1523 mü&#x017F;&#x017F;en wir &#x017F;einen<lb/>
Ur&#x017F;prung &#x017F;etzen. <note place="foot" n="1">Riederer: von Einfu&#x0364;hrung des deut&#x017F;chen Ge&#x017F;anges <hi rendition="#aq">p.</hi> 95.<lb/>
Das merkwu&#x0364;rdige Schreiben an Spalatin, u&#x0364;ber eine Bearbeitung<lb/>
der P&#x017F;almen in deut&#x017F;chen Ver&#x017F;en, bei de Wette <hi rendition="#aq">II, p.</hi> 490 i&#x017F;t ohne<lb/>
Zweifel fru&#x0364;her als das vom 14ten Januar 1524 datirte <hi rendition="#aq">ib. p.</hi> 461.<lb/>
Da &#x017F;ieht man er&#x017F;t, was die <hi rendition="#aq">Musae germanicae</hi>, woru&#x0364;ber de Wette<lb/>
in Zweifel i&#x017F;t, &#x017F;agen wollen. Aus den Briefen an Hausmann er-<lb/>
giebt &#x017F;ich, daß Luther im Nov. und Dez. 1523 mit der Abfa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
der Liturgie umgieng.</note> Einzelne Lieder, von Spretten oder von<lb/>
Luther, fanden &#x017F;ogleich eine allgemeine Verbreitung: in die&#x017F;en<lb/>
frühe&#x017F;ten Bewegungen des reformatori&#x017F;chen Gei&#x017F;tes wirkten<lb/>
&#x017F;ie mit; aber er&#x017F;t einige Jahrzehnde &#x017F;päter entfaltete der<lb/>
deut&#x017F;che Gei&#x017F;t &#x017F;einen ganzen Reichthum poeti&#x017F;cher und be-<lb/>
&#x017F;onders mu&#x017F;ikali&#x017F;cher Production in die&#x017F;er Gattung.</p><lb/>
          <p>Und auch übrigens widmete &#x017F;ich die volksthümliche<lb/>
Poe&#x017F;ie mit dem Gei&#x017F;te der Lehrhaftigkeit und der Oppo&#x017F;i-<lb/>
tion, der ihr überhaupt eigen war, den aufkommenden Ideen.<lb/>
Schon Hutten hatte &#x017F;eine bitter&#x017F;ten Anklagen in Reime ge-<lb/>
worfen: das Verderben der Gei&#x017F;tlichkeit hatte Murner in<lb/>
langen, an&#x017F;chaulichen Be&#x017F;chreibungen ge&#x017F;childert; der Ver-<lb/>
werfung und dem Tadel ge&#x017F;ellte &#x017F;ich jetzt, wenn nicht bei<lb/>
Murner, doch bei der Mehrzahl der Andern, die po&#x017F;itive<lb/>
Überzeugung, die Bewunderung des Vorkämpfers hinzu.<lb/>
Da ward der Mann geprie&#x017F;en, der inmitten der rothen<lb/>
Barette und Sammet&#x017F;chauben die gerechte Lehre behauptet.<lb/>
In Fa&#x017F;tnachts&#x017F;pielen er&#x017F;cheint der Pap&#x017F;t, der &#x017F;ich freut daß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0092] Drittes Buch. Drittes Capitel. oder das Gemeingefühl zu entbinden, feſtzuhalten: durch die Melodie erſt geſchah das, in der ſich die alten Kirchen- tonarten mit ihrem Ernſt, und die anmuthenden Weiſen des Volksliedes durchdrangen. So entſtand das evange- liſche Kirchenlied. In das Jahr 1523 müſſen wir ſeinen Urſprung ſetzen. 1 Einzelne Lieder, von Spretten oder von Luther, fanden ſogleich eine allgemeine Verbreitung: in dieſen früheſten Bewegungen des reformatoriſchen Geiſtes wirkten ſie mit; aber erſt einige Jahrzehnde ſpäter entfaltete der deutſche Geiſt ſeinen ganzen Reichthum poetiſcher und be- ſonders muſikaliſcher Production in dieſer Gattung. Und auch übrigens widmete ſich die volksthümliche Poeſie mit dem Geiſte der Lehrhaftigkeit und der Oppoſi- tion, der ihr überhaupt eigen war, den aufkommenden Ideen. Schon Hutten hatte ſeine bitterſten Anklagen in Reime ge- worfen: das Verderben der Geiſtlichkeit hatte Murner in langen, anſchaulichen Beſchreibungen geſchildert; der Ver- werfung und dem Tadel geſellte ſich jetzt, wenn nicht bei Murner, doch bei der Mehrzahl der Andern, die poſitive Überzeugung, die Bewunderung des Vorkämpfers hinzu. Da ward der Mann geprieſen, der inmitten der rothen Barette und Sammetſchauben die gerechte Lehre behauptet. In Faſtnachtsſpielen erſcheint der Papſt, der ſich freut daß 1 Riederer: von Einfuͤhrung des deutſchen Geſanges p. 95. Das merkwuͤrdige Schreiben an Spalatin, uͤber eine Bearbeitung der Pſalmen in deutſchen Verſen, bei de Wette II, p. 490 iſt ohne Zweifel fruͤher als das vom 14ten Januar 1524 datirte ib. p. 461. Da ſieht man erſt, was die Musae germanicae, woruͤber de Wette in Zweifel iſt, ſagen wollen. Aus den Briefen an Hausmann er- giebt ſich, daß Luther im Nov. und Dez. 1523 mit der Abfaſſung der Liturgie umgieng.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/92
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/92>, abgerufen am 07.05.2024.