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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.

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Ausbreitung der Lehre.
walt, deren die Sprache fähig ist. Die unvergänglichen
Denkmale der frühesten Jahrhunderte, in denen der Odem
der jungen Menschheit weht, die heiligen Urkunden späterer
Zeit, in denen sich die wahre Religion in aller ihrer kind-
lichen Ingenuität offenbart hat, bekam das deutsche Volk
jetzt in der Sprache des Tages in die Hände, Stück für
Stück; wie eine Flugschrift, deren Inhalt sich auf die un-
mittelbarsten Interessen der Gegenwart bezieht, und die man
mit Begierde in sich aufnimmt.

Es giebt eine Production des deutschen Geistes,
die aus eben diesem Zusammentreffen unmittelbar hervor-
gieng. Indem Luther die Psalmen übersetzte, faßte er
den Gedanken sie für den Gesang der Gemeinde zu be-
arbeiten. 1 Denn eine ganz andere Theilnahme derselben
an dem Gottesdienst als die bisherige machte die Idee
der Kirche nothwendig, wie er sie ausgesprochen und ins
Leben zu rufen begann. Bei der bloßen Bearbeitung je-
doch, wie es wohl anderwärts geschehen, konnte man hier
nicht stehen bleiben. Das gläubige Gemüth, beruhigt in
der Überzeugung das geoffenbarte Gottes Wort zu besitzen,
gehoben durch das Gefühl des Kampfes und der Gefahr
in der man sich befand, angehaucht von dem poetischen
Genius des alten Testamentes, ergoß sich in eigenen Her-
vorbringungen religiöser Lyrik, die zugleich Poesie und Musik
waren. Denn das Wort allein hätte nicht vermocht, die
Stimmung der Seele in ihrer ganzen Fülle auszudrücken,

1 Luthers Vorrede auf Johann Walters geistliche Gesänge erin-
nert an "das Exempel der Propheten und Könige im alten Testa-
ment, die mit singen und klingen mit dichten und allerlei Seiten-
spiel Gott gelobet haben." Altenb. A. II, p. 751.
Ranke d. Gesch. II. 6

Ausbreitung der Lehre.
walt, deren die Sprache fähig iſt. Die unvergänglichen
Denkmale der früheſten Jahrhunderte, in denen der Odem
der jungen Menſchheit weht, die heiligen Urkunden ſpäterer
Zeit, in denen ſich die wahre Religion in aller ihrer kind-
lichen Ingenuität offenbart hat, bekam das deutſche Volk
jetzt in der Sprache des Tages in die Hände, Stück für
Stück; wie eine Flugſchrift, deren Inhalt ſich auf die un-
mittelbarſten Intereſſen der Gegenwart bezieht, und die man
mit Begierde in ſich aufnimmt.

Es giebt eine Production des deutſchen Geiſtes,
die aus eben dieſem Zuſammentreffen unmittelbar hervor-
gieng. Indem Luther die Pſalmen überſetzte, faßte er
den Gedanken ſie für den Geſang der Gemeinde zu be-
arbeiten. 1 Denn eine ganz andere Theilnahme derſelben
an dem Gottesdienſt als die bisherige machte die Idee
der Kirche nothwendig, wie er ſie ausgeſprochen und ins
Leben zu rufen begann. Bei der bloßen Bearbeitung je-
doch, wie es wohl anderwärts geſchehen, konnte man hier
nicht ſtehen bleiben. Das gläubige Gemüth, beruhigt in
der Überzeugung das geoffenbarte Gottes Wort zu beſitzen,
gehoben durch das Gefühl des Kampfes und der Gefahr
in der man ſich befand, angehaucht von dem poetiſchen
Genius des alten Teſtamentes, ergoß ſich in eigenen Her-
vorbringungen religiöſer Lyrik, die zugleich Poeſie und Muſik
waren. Denn das Wort allein hätte nicht vermocht, die
Stimmung der Seele in ihrer ganzen Fülle auszudrücken,

1 Luthers Vorrede auf Johann Walters geiſtliche Geſaͤnge erin-
nert an „das Exempel der Propheten und Koͤnige im alten Teſta-
ment, die mit ſingen und klingen mit dichten und allerlei Seiten-
ſpiel Gott gelobet haben.“ Altenb. A. II, p. 751.
Ranke d. Geſch. II. 6
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[81/0091] Ausbreitung der Lehre. walt, deren die Sprache fähig iſt. Die unvergänglichen Denkmale der früheſten Jahrhunderte, in denen der Odem der jungen Menſchheit weht, die heiligen Urkunden ſpäterer Zeit, in denen ſich die wahre Religion in aller ihrer kind- lichen Ingenuität offenbart hat, bekam das deutſche Volk jetzt in der Sprache des Tages in die Hände, Stück für Stück; wie eine Flugſchrift, deren Inhalt ſich auf die un- mittelbarſten Intereſſen der Gegenwart bezieht, und die man mit Begierde in ſich aufnimmt. Es giebt eine Production des deutſchen Geiſtes, die aus eben dieſem Zuſammentreffen unmittelbar hervor- gieng. Indem Luther die Pſalmen überſetzte, faßte er den Gedanken ſie für den Geſang der Gemeinde zu be- arbeiten. 1 Denn eine ganz andere Theilnahme derſelben an dem Gottesdienſt als die bisherige machte die Idee der Kirche nothwendig, wie er ſie ausgeſprochen und ins Leben zu rufen begann. Bei der bloßen Bearbeitung je- doch, wie es wohl anderwärts geſchehen, konnte man hier nicht ſtehen bleiben. Das gläubige Gemüth, beruhigt in der Überzeugung das geoffenbarte Gottes Wort zu beſitzen, gehoben durch das Gefühl des Kampfes und der Gefahr in der man ſich befand, angehaucht von dem poetiſchen Genius des alten Teſtamentes, ergoß ſich in eigenen Her- vorbringungen religiöſer Lyrik, die zugleich Poeſie und Muſik waren. Denn das Wort allein hätte nicht vermocht, die Stimmung der Seele in ihrer ganzen Fülle auszudrücken, 1 Luthers Vorrede auf Johann Walters geiſtliche Geſaͤnge erin- nert an „das Exempel der Propheten und Koͤnige im alten Teſta- ment, die mit ſingen und klingen mit dichten und allerlei Seiten- ſpiel Gott gelobet haben.“ Altenb. A. II, p. 751. Ranke d. Geſch. II. 6

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/91>, abgerufen am 22.11.2024.