Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.Unruhen in Wittenberg. erschüttert, waren Gebräuche gegründet die jeden Augen-blick des täglichen Lebens beherrschten; von dieser thatkräf- tigen, sich selber fühlenden, durch mächtig erwachende Ideen vorwärts getriebenen Generation ließ sich nicht erwarten, daß sie ihrer Überzeugung Gewalt anthun, und Ordnungen befolgen würde, die sie zu verdammen anfieng. Das Erste was geschah war das Allerpersönlichste. Ein paar Pfarrer in der Nähe, die sich zu der Wit- 1 Quid statuerint pontificii canones, nihil refert christia-
norum. Schreiben der Wittenberger Theologen an den Bischof von Meißen: Corp. Ref. I, 418. Unruhen in Wittenberg. erſchüttert, waren Gebräuche gegründet die jeden Augen-blick des täglichen Lebens beherrſchten; von dieſer thatkräf- tigen, ſich ſelber fühlenden, durch mächtig erwachende Ideen vorwärts getriebenen Generation ließ ſich nicht erwarten, daß ſie ihrer Überzeugung Gewalt anthun, und Ordnungen befolgen würde, die ſie zu verdammen anfieng. Das Erſte was geſchah war das Allerperſönlichſte. Ein paar Pfarrer in der Nähe, die ſich zu der Wit- 1 Quid statuerint pontificii canones, nihil refert christia-
norum. Schreiben der Wittenberger Theologen an den Biſchof von Meißen: Corp. Ref. I, 418. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0023" n="13"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Unruhen in Wittenberg</hi>.</fw><lb/> erſchüttert, waren Gebräuche gegründet die jeden Augen-<lb/> blick des täglichen Lebens beherrſchten; von dieſer thatkräf-<lb/> tigen, ſich ſelber fühlenden, durch mächtig erwachende Ideen<lb/> vorwärts getriebenen Generation ließ ſich nicht erwarten,<lb/> daß ſie ihrer Überzeugung Gewalt anthun, und Ordnungen<lb/> befolgen würde, die ſie zu verdammen anfieng.</p><lb/> <p>Das Erſte was geſchah war das Allerperſönlichſte.</p><lb/> <p>Ein paar Pfarrer in der Nähe, die ſich zu der Wit-<lb/> tenberger Schule hielten, Jacob Seidler auf der Glashütte<lb/> und Bartholomäus Bernhardi von Kemberg ſprachen ſich<lb/> ſelbſt von der Pflicht des Cölibates los. Es war das die-<lb/> jenige Einrichtung der Hierarchie, die wegen der natürli-<lb/> chen Neigung der Deutſchen zu einem traulichen Familien-<lb/> leben bei dem deutſchen Clerus von Anfang den meiſten<lb/> Widerſpruch gefunden, und in ihren Folgen die Moral der<lb/> Nation am tiefſten verletzt hatte. Die beiden Pfarrer ga-<lb/> ben als ihren Grund an, daß es keinem Papſt und keiner<lb/> Synode freigeſtanden, die Kirche mit einer Satzung zu be-<lb/> ſchweren, welche Leib und Seele gefährde. <note place="foot" n="1"><hi rendition="#aq">Quid statuerint pontificii canones, nihil refert christia-<lb/> norum.</hi> Schreiben der Wittenberger Theologen an den Biſchof von<lb/> Meißen: <hi rendition="#aq">Corp. Ref. I,</hi> 418.</note> Hierauf wur-<lb/> den beide von der geiſtlichen Gewalt in Anſpruch genom-<lb/> men. Aber nur Seidler, in dem Gebiete des Herzog Georg<lb/> von Sachſen, ward ihr überlaſſen: er iſt da in dem Ge-<lb/> fängniß umgekommen. Gegen Bernhardi lieh Churfürſt<lb/> Friedrich dem Erzbiſchof von Magdeburg ſeinen Arm nicht;<lb/> er wollte ſich, wie Spalatin es ausdrückt, nicht zum Scher-<lb/> gen brauchen laſſen. Carlſtadt faßte Muth, das Inſtitut<lb/> des Cölibates in einer ausführlichen Schrift anzugreifen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0023]
Unruhen in Wittenberg.
erſchüttert, waren Gebräuche gegründet die jeden Augen-
blick des täglichen Lebens beherrſchten; von dieſer thatkräf-
tigen, ſich ſelber fühlenden, durch mächtig erwachende Ideen
vorwärts getriebenen Generation ließ ſich nicht erwarten,
daß ſie ihrer Überzeugung Gewalt anthun, und Ordnungen
befolgen würde, die ſie zu verdammen anfieng.
Das Erſte was geſchah war das Allerperſönlichſte.
Ein paar Pfarrer in der Nähe, die ſich zu der Wit-
tenberger Schule hielten, Jacob Seidler auf der Glashütte
und Bartholomäus Bernhardi von Kemberg ſprachen ſich
ſelbſt von der Pflicht des Cölibates los. Es war das die-
jenige Einrichtung der Hierarchie, die wegen der natürli-
chen Neigung der Deutſchen zu einem traulichen Familien-
leben bei dem deutſchen Clerus von Anfang den meiſten
Widerſpruch gefunden, und in ihren Folgen die Moral der
Nation am tiefſten verletzt hatte. Die beiden Pfarrer ga-
ben als ihren Grund an, daß es keinem Papſt und keiner
Synode freigeſtanden, die Kirche mit einer Satzung zu be-
ſchweren, welche Leib und Seele gefährde. 1 Hierauf wur-
den beide von der geiſtlichen Gewalt in Anſpruch genom-
men. Aber nur Seidler, in dem Gebiete des Herzog Georg
von Sachſen, ward ihr überlaſſen: er iſt da in dem Ge-
fängniß umgekommen. Gegen Bernhardi lieh Churfürſt
Friedrich dem Erzbiſchof von Magdeburg ſeinen Arm nicht;
er wollte ſich, wie Spalatin es ausdrückt, nicht zum Scher-
gen brauchen laſſen. Carlſtadt faßte Muth, das Inſtitut
des Cölibates in einer ausführlichen Schrift anzugreifen.
1 Quid statuerint pontificii canones, nihil refert christia-
norum. Schreiben der Wittenberger Theologen an den Biſchof von
Meißen: Corp. Ref. I, 418.
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