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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Aus verwandten Anfängen und Entwickelungen waren in
allen übrigen Reichen von Europa ähnliche Unordnungen
hervorgegangen. Wir können sagen: die Geburten und
Hervorbringungen des Mittelalters waren allenthalben mit
einander in einen Kampf gerathen in welchem sie sich wech-
selseitig vernichteten.

Denn die Ideen, durch welche menschliche Zustände
begründet werden, enthalten das Göttliche und Ewige, aus
dem sie quellen, doch niemals vollständig in sich. Eine
Zeitlang sind sie wohlthätig, Leben gebend; neue Schöpfun-
gen gehn unter ihrem Odem hervor. Allein auf Erden
kommt nichts zu einem reinen und vollkommenen Daseyn:
darum ist auch nichts unsterblich. Wenn die Zeit erfüllt
ist, erheben sich aus dem Verfallenden Bestrebungen von
weiter reichendem geistigen Inhalt, die es vollends zerspren-
gen. Das sind die Geschicke Gottes in der Welt.

Waren die Unordnungen allgemein, so war es auch
das Bestreben, denselben ein Ziel zu setzen. Eben aus der
allgemeinen Verwirrung erhoben sich, durch die Nothwen-

Ranke d. Gesch. I. 6

Aus verwandten Anfängen und Entwickelungen waren in
allen übrigen Reichen von Europa ähnliche Unordnungen
hervorgegangen. Wir können ſagen: die Geburten und
Hervorbringungen des Mittelalters waren allenthalben mit
einander in einen Kampf gerathen in welchem ſie ſich wech-
ſelſeitig vernichteten.

Denn die Ideen, durch welche menſchliche Zuſtände
begründet werden, enthalten das Göttliche und Ewige, aus
dem ſie quellen, doch niemals vollſtändig in ſich. Eine
Zeitlang ſind ſie wohlthätig, Leben gebend; neue Schöpfun-
gen gehn unter ihrem Odem hervor. Allein auf Erden
kommt nichts zu einem reinen und vollkommenen Daſeyn:
darum iſt auch nichts unſterblich. Wenn die Zeit erfüllt
iſt, erheben ſich aus dem Verfallenden Beſtrebungen von
weiter reichendem geiſtigen Inhalt, die es vollends zerſpren-
gen. Das ſind die Geſchicke Gottes in der Welt.

Waren die Unordnungen allgemein, ſo war es auch
das Beſtreben, denſelben ein Ziel zu ſetzen. Eben aus der
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[[81]/0099] Aus verwandten Anfängen und Entwickelungen waren in allen übrigen Reichen von Europa ähnliche Unordnungen hervorgegangen. Wir können ſagen: die Geburten und Hervorbringungen des Mittelalters waren allenthalben mit einander in einen Kampf gerathen in welchem ſie ſich wech- ſelſeitig vernichteten. Denn die Ideen, durch welche menſchliche Zuſtände begründet werden, enthalten das Göttliche und Ewige, aus dem ſie quellen, doch niemals vollſtändig in ſich. Eine Zeitlang ſind ſie wohlthätig, Leben gebend; neue Schöpfun- gen gehn unter ihrem Odem hervor. Allein auf Erden kommt nichts zu einem reinen und vollkommenen Daſeyn: darum iſt auch nichts unſterblich. Wenn die Zeit erfüllt iſt, erheben ſich aus dem Verfallenden Beſtrebungen von weiter reichendem geiſtigen Inhalt, die es vollends zerſpren- gen. Das ſind die Geſchicke Gottes in der Welt. Waren die Unordnungen allgemein, ſo war es auch das Beſtreben, denſelben ein Ziel zu ſetzen. Eben aus der allgemeinen Verwirrung erhoben ſich, durch die Nothwen- Ranke d. Geſch. I. 6

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. [81]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/99>, abgerufen am 18.05.2024.