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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Zweites Buch. Drittes Capitel.
Lehre, sagt er im Februar 1520, habe ich schon vorge-
tragen ohne sie zu kennen, eben so Staupitz: wir sind alle
Hussiten, ohne es zu wissen, Paulus und Augustin sind
Hussiten: ich weiß vor Erstaunen nicht, was ich denken
soll. Er ruft Wehe über die Erde, über die furchtbaren
Gerichte Gottes, daß die evangelische Wahrheit schon seit
100 Jahren bekannt, aber verdammt und verbrannt sey. 1
Man nimmt wahr, wie er sich nicht allein von der rö-
mischen Kirche entfernte, sondern zugleich einen religiösen
Widerwillen ja Ingrimm gegen sie faßte. In demselben
Monat kam ihm zuerst die Schrift des Laurentius Valla
über die Schenkung Constantins zu Handen. Es war
eine Entdeckung für ihn, daß diese Schenkung eine Fiction
sey: seine deutsche Ehrlichkeit erfüllte es mit Entsetzen daß
man, wie er sich ausdrückt, "so schamlose Lügen in die
Decretalen aufgenommen, fast zu Glaubensartikeln gemacht
habe!" "Welche Finsterniß, ruft er aus, welche Bosheit."
Alle Geister und Kräfte versammeln sich um ihn, die je-
mals dem Papstthum den Krieg gemacht: die welche sich
von Anfang an nicht unterworfen, die welche sich losge-
rissen und nicht wieder herbeigebracht worden, die Tenden-
zen der innern lateinischen Opposition, theologische und li-
terarische. Schon bei dem ersten Studium der päpstlichen
Gesetze hatte er zu bemerken geglaubt, daß sie der Schrift
widersprechen: jetzt war er schon überzeugt, die Schrift
und das Papstthum seyen in unversöhnlichem Widerspruch.
Um nur zu begreifen wie es von der göttlichen Vorse-
hung zugelassen sey, um die gestörte Einheit seiner religiö-

1 An Spalatin bei de Wette nr. 208.

Zweites Buch. Drittes Capitel.
Lehre, ſagt er im Februar 1520, habe ich ſchon vorge-
tragen ohne ſie zu kennen, eben ſo Staupitz: wir ſind alle
Huſſiten, ohne es zu wiſſen, Paulus und Auguſtin ſind
Huſſiten: ich weiß vor Erſtaunen nicht, was ich denken
ſoll. Er ruft Wehe über die Erde, über die furchtbaren
Gerichte Gottes, daß die evangeliſche Wahrheit ſchon ſeit
100 Jahren bekannt, aber verdammt und verbrannt ſey. 1
Man nimmt wahr, wie er ſich nicht allein von der rö-
miſchen Kirche entfernte, ſondern zugleich einen religiöſen
Widerwillen ja Ingrimm gegen ſie faßte. In demſelben
Monat kam ihm zuerſt die Schrift des Laurentius Valla
über die Schenkung Conſtantins zu Handen. Es war
eine Entdeckung für ihn, daß dieſe Schenkung eine Fiction
ſey: ſeine deutſche Ehrlichkeit erfüllte es mit Entſetzen daß
man, wie er ſich ausdrückt, „ſo ſchamloſe Lügen in die
Decretalen aufgenommen, faſt zu Glaubensartikeln gemacht
habe!“ „Welche Finſterniß, ruft er aus, welche Bosheit.“
Alle Geiſter und Kräfte verſammeln ſich um ihn, die je-
mals dem Papſtthum den Krieg gemacht: die welche ſich
von Anfang an nicht unterworfen, die welche ſich losge-
riſſen und nicht wieder herbeigebracht worden, die Tenden-
zen der innern lateiniſchen Oppoſition, theologiſche und li-
terariſche. Schon bei dem erſten Studium der päpſtlichen
Geſetze hatte er zu bemerken geglaubt, daß ſie der Schrift
widerſprechen: jetzt war er ſchon überzeugt, die Schrift
und das Papſtthum ſeyen in unverſöhnlichem Widerſpruch.
Um nur zu begreifen wie es von der göttlichen Vorſe-
hung zugelaſſen ſey, um die geſtörte Einheit ſeiner religiö-

1 An Spalatin bei de Wette nr. 208.
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[410/0428] Zweites Buch. Drittes Capitel. Lehre, ſagt er im Februar 1520, habe ich ſchon vorge- tragen ohne ſie zu kennen, eben ſo Staupitz: wir ſind alle Huſſiten, ohne es zu wiſſen, Paulus und Auguſtin ſind Huſſiten: ich weiß vor Erſtaunen nicht, was ich denken ſoll. Er ruft Wehe über die Erde, über die furchtbaren Gerichte Gottes, daß die evangeliſche Wahrheit ſchon ſeit 100 Jahren bekannt, aber verdammt und verbrannt ſey. 1 Man nimmt wahr, wie er ſich nicht allein von der rö- miſchen Kirche entfernte, ſondern zugleich einen religiöſen Widerwillen ja Ingrimm gegen ſie faßte. In demſelben Monat kam ihm zuerſt die Schrift des Laurentius Valla über die Schenkung Conſtantins zu Handen. Es war eine Entdeckung für ihn, daß dieſe Schenkung eine Fiction ſey: ſeine deutſche Ehrlichkeit erfüllte es mit Entſetzen daß man, wie er ſich ausdrückt, „ſo ſchamloſe Lügen in die Decretalen aufgenommen, faſt zu Glaubensartikeln gemacht habe!“ „Welche Finſterniß, ruft er aus, welche Bosheit.“ Alle Geiſter und Kräfte verſammeln ſich um ihn, die je- mals dem Papſtthum den Krieg gemacht: die welche ſich von Anfang an nicht unterworfen, die welche ſich losge- riſſen und nicht wieder herbeigebracht worden, die Tenden- zen der innern lateiniſchen Oppoſition, theologiſche und li- terariſche. Schon bei dem erſten Studium der päpſtlichen Geſetze hatte er zu bemerken geglaubt, daß ſie der Schrift widerſprechen: jetzt war er ſchon überzeugt, die Schrift und das Papſtthum ſeyen in unverſöhnlichem Widerſpruch. Um nur zu begreifen wie es von der göttlichen Vorſe- hung zugelaſſen ſey, um die geſtörte Einheit ſeiner religiö- 1 An Spalatin bei de Wette nr. 208.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/428>, abgerufen am 22.11.2024.