Wir müssen uns erinnern, daß man die Universitäten nicht allein als Unterrichtsanstalten, sondern als höchste Tribunale wissenschaftlicher Entscheidung anzusehen pflegte. In der Bestätigung von Wittenberg erklärt Friedrich, 1 sammt allen umwohnenden Völkern werde er sich dahin wenden, als an ein Orakel, "so daß wir," sagt er, "wenn wir voll Zweifels gekommen, nach empfangenem Bescheid unsrer Sache gewiß uns wieder entfernen."
Auf die Stiftung und erste Einrichtung dieser Univer- sität nun hatten zwei Männer den größten Einfluß, welche beide ohne Frage der Opposition gegen das herrschende theologisch-philosophische System angehörten.
Der eine war Dr Martin Pollich von Melrichstadt, der erste in die Matrikel eingetragene Name, der erste Rector; Leibarzt des Fürsten. Wir wissen, daß er schon in Leipzig, wo er bisher gestanden, die seltsamen Übertrei- bungen bekämpfte, in die sich die dortige Scholastik ver- lor, sehr wunderliche Sätze, z. B. daß das am ersten Tage erschaffene Licht die Theologie sey, daß den Engeln discur- sive Theologie beiwohne; daß er schon auf den Gedanken gekommen war diese Wissenschaft durch das Studium der allgemeinen Literatur zu begründen. 2
Der andre war derselbe Johann Staupitz, dessen au- gustinianisch-mystischer Richtung wir eben gedachten; er war der erste Decan der theologischen Facultät; die denn
1Confirmatio ducis Friderici ib. p. 19.
2 Auszüge aus seinen Schriften hat Löscher in den unschuldi- gen Nachrichten von 1716 und in den Reformationsacten I, 88 mit- getheilt. In seiner Grabschrift in der Pfarrkirche zu Wittenberg heißt er mit Recht: hujus gymnasii primus rector et parens.
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Univerſitaͤt Wittenberg.
Wir müſſen uns erinnern, daß man die Univerſitäten nicht allein als Unterrichtsanſtalten, ſondern als höchſte Tribunale wiſſenſchaftlicher Entſcheidung anzuſehen pflegte. In der Beſtätigung von Wittenberg erklärt Friedrich, 1 ſammt allen umwohnenden Völkern werde er ſich dahin wenden, als an ein Orakel, „ſo daß wir,“ ſagt er, „wenn wir voll Zweifels gekommen, nach empfangenem Beſcheid unſrer Sache gewiß uns wieder entfernen.“
Auf die Stiftung und erſte Einrichtung dieſer Univer- ſität nun hatten zwei Männer den größten Einfluß, welche beide ohne Frage der Oppoſition gegen das herrſchende theologiſch-philoſophiſche Syſtem angehörten.
Der eine war Dr Martin Pollich von Melrichſtadt, der erſte in die Matrikel eingetragene Name, der erſte Rector; Leibarzt des Fürſten. Wir wiſſen, daß er ſchon in Leipzig, wo er bisher geſtanden, die ſeltſamen Übertrei- bungen bekämpfte, in die ſich die dortige Scholaſtik ver- lor, ſehr wunderliche Sätze, z. B. daß das am erſten Tage erſchaffene Licht die Theologie ſey, daß den Engeln discur- ſive Theologie beiwohne; daß er ſchon auf den Gedanken gekommen war dieſe Wiſſenſchaft durch das Studium der allgemeinen Literatur zu begründen. 2
Der andre war derſelbe Johann Staupitz, deſſen au- guſtinianiſch-myſtiſcher Richtung wir eben gedachten; er war der erſte Decan der theologiſchen Facultät; die denn
1Confirmatio ducis Friderici ib. p. 19.
2 Auszuͤge aus ſeinen Schriften hat Loͤſcher in den unſchuldi- gen Nachrichten von 1716 und in den Reformationsacten I, 88 mit- getheilt. In ſeiner Grabſchrift in der Pfarrkirche zu Wittenberg heißt er mit Recht: hujus gymnasii primus rector et parens.
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Univerſitaͤt Wittenberg.
Wir müſſen uns erinnern, daß man die Univerſitäten
nicht allein als Unterrichtsanſtalten, ſondern als höchſte
Tribunale wiſſenſchaftlicher Entſcheidung anzuſehen pflegte.
In der Beſtätigung von Wittenberg erklärt Friedrich, 1
ſammt allen umwohnenden Völkern werde er ſich dahin
wenden, als an ein Orakel, „ſo daß wir,“ ſagt er, „wenn
wir voll Zweifels gekommen, nach empfangenem Beſcheid
unſrer Sache gewiß uns wieder entfernen.“
Auf die Stiftung und erſte Einrichtung dieſer Univer-
ſität nun hatten zwei Männer den größten Einfluß, welche
beide ohne Frage der Oppoſition gegen das herrſchende
theologiſch-philoſophiſche Syſtem angehörten.
Der eine war Dr Martin Pollich von Melrichſtadt,
der erſte in die Matrikel eingetragene Name, der erſte
Rector; Leibarzt des Fürſten. Wir wiſſen, daß er ſchon
in Leipzig, wo er bisher geſtanden, die ſeltſamen Übertrei-
bungen bekämpfte, in die ſich die dortige Scholaſtik ver-
lor, ſehr wunderliche Sätze, z. B. daß das am erſten Tage
erſchaffene Licht die Theologie ſey, daß den Engeln discur-
ſive Theologie beiwohne; daß er ſchon auf den Gedanken
gekommen war dieſe Wiſſenſchaft durch das Studium der
allgemeinen Literatur zu begründen. 2
Der andre war derſelbe Johann Staupitz, deſſen au-
guſtinianiſch-myſtiſcher Richtung wir eben gedachten; er
war der erſte Decan der theologiſchen Facultät; die denn
1 Confirmatio ducis Friderici ib. p. 19.
2 Auszuͤge aus ſeinen Schriften hat Loͤſcher in den unſchuldi-
gen Nachrichten von 1716 und in den Reformationsacten I, 88 mit-
getheilt. In ſeiner Grabſchrift in der Pfarrkirche zu Wittenberg
heißt er mit Recht: hujus gymnasii primus rector et parens.
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/309>, abgerufen am 16.07.2024.
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