Überhaupt können wir sagen, daß die Tendenzen der literarischen Opposition den Sieg davon trugen. Freudig sieht Erasmus im J. 1518 um sich her; allenthalben sind seine Schüler und Anhänger auf den Universitäten einge- drungen, zuletzt auch in Leipzig, das sich so lange gehalten hatte: alles Lehrer der alten Literatur. 1
Sollten die großen Alten vergeblich gelebt haben? Sollten ihre Werke, in der Jugend der Menschheit ver- faßt, mit deren Schönheit und innerer Vortrefflichkeit sich nichts vergleichen läßt was seitdem entsprungen, den spä- tern Jahrhunderten nicht zurückgegeben, in ihrer Ursprüng- lichkeit zur Anschauung gebracht werden? Es ist ein uni- versalhistorisches Ereigniß, daß nach so viel völkerzerstören- den völkergründenden Bewegungen, in denen die alte Welt vorlängst zu Grunde gegangen, alle ihre Elemente mit an- deren Stoffen versetzt worden, die Reliquien ihres Gei- stes, die jetzt keine andre Wirkung mehr haben konn- ten als eine formelle, mit einem früher nie gekannten Wetteifer aufgesucht, in weiten Kreisen verbreitet, studirt und nachgeahmt wurden.
In der deutschen Nation war dieß Studium gleich bei der ersten Einführung des Christenthums gepflanzt, in dem 10ten und 11ten Jahrhundert zu einer nicht geringen
1 In der Schrift de ratione conscribendi epistolas, deren Zuschrift vom Jahr 1522 ist, ruft er aus: Ausg. v. 1534 p. 71. Videmus quantum profectum sit paucis annis. Vbi nunc est Mi- chael Modista, ubi glossema Jacobi, ubi citatur catholicon bra- chylogus aut Mammaetrectus, quos olim ceu rarum thesaurum aureis literis descriptos habebant monachorum bibliothecae. Man sieht wie sehr sich die Methode veränderte.
Bewegungen in der gelehrten Literatur.
Überhaupt können wir ſagen, daß die Tendenzen der literariſchen Oppoſition den Sieg davon trugen. Freudig ſieht Erasmus im J. 1518 um ſich her; allenthalben ſind ſeine Schüler und Anhänger auf den Univerſitäten einge- drungen, zuletzt auch in Leipzig, das ſich ſo lange gehalten hatte: alles Lehrer der alten Literatur. 1
Sollten die großen Alten vergeblich gelebt haben? Sollten ihre Werke, in der Jugend der Menſchheit ver- faßt, mit deren Schönheit und innerer Vortrefflichkeit ſich nichts vergleichen läßt was ſeitdem entſprungen, den ſpä- tern Jahrhunderten nicht zurückgegeben, in ihrer Urſprüng- lichkeit zur Anſchauung gebracht werden? Es iſt ein uni- verſalhiſtoriſches Ereigniß, daß nach ſo viel völkerzerſtören- den völkergründenden Bewegungen, in denen die alte Welt vorlängſt zu Grunde gegangen, alle ihre Elemente mit an- deren Stoffen verſetzt worden, die Reliquien ihres Gei- ſtes, die jetzt keine andre Wirkung mehr haben konn- ten als eine formelle, mit einem früher nie gekannten Wetteifer aufgeſucht, in weiten Kreiſen verbreitet, ſtudirt und nachgeahmt wurden.
In der deutſchen Nation war dieß Studium gleich bei der erſten Einführung des Chriſtenthums gepflanzt, in dem 10ten und 11ten Jahrhundert zu einer nicht geringen
1 In der Schrift de ratione conscribendi epistolas, deren Zuſchrift vom Jahr 1522 iſt, ruft er aus: Ausg. v. 1534 p. 71. Videmus quantum profectum sit paucis annis. Vbi nunc est Mi- chael Modista, ubi glossema Jacobi, ubi citatur catholicon bra- chylogus aut Mammaetrectus, quos olim ceu rarum thesaurum aureis literis descriptos habebant monachorum bibliothecae. Man ſieht wie ſehr ſich die Methode veraͤnderte.
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Bewegungen in der gelehrten Literatur.
Überhaupt können wir ſagen, daß die Tendenzen der
literariſchen Oppoſition den Sieg davon trugen. Freudig
ſieht Erasmus im J. 1518 um ſich her; allenthalben ſind
ſeine Schüler und Anhänger auf den Univerſitäten einge-
drungen, zuletzt auch in Leipzig, das ſich ſo lange gehalten
hatte: alles Lehrer der alten Literatur. 1
Sollten die großen Alten vergeblich gelebt haben?
Sollten ihre Werke, in der Jugend der Menſchheit ver-
faßt, mit deren Schönheit und innerer Vortrefflichkeit ſich
nichts vergleichen läßt was ſeitdem entſprungen, den ſpä-
tern Jahrhunderten nicht zurückgegeben, in ihrer Urſprüng-
lichkeit zur Anſchauung gebracht werden? Es iſt ein uni-
verſalhiſtoriſches Ereigniß, daß nach ſo viel völkerzerſtören-
den völkergründenden Bewegungen, in denen die alte Welt
vorlängſt zu Grunde gegangen, alle ihre Elemente mit an-
deren Stoffen verſetzt worden, die Reliquien ihres Gei-
ſtes, die jetzt keine andre Wirkung mehr haben konn-
ten als eine formelle, mit einem früher nie gekannten
Wetteifer aufgeſucht, in weiten Kreiſen verbreitet, ſtudirt
und nachgeahmt wurden.
In der deutſchen Nation war dieß Studium gleich
bei der erſten Einführung des Chriſtenthums gepflanzt, in
dem 10ten und 11ten Jahrhundert zu einer nicht geringen
1 In der Schrift de ratione conscribendi epistolas, deren
Zuſchrift vom Jahr 1522 iſt, ruft er aus: Ausg. v. 1534 p. 71.
Videmus quantum profectum sit paucis annis. Vbi nunc est Mi-
chael Modista, ubi glossema Jacobi, ubi citatur catholicon bra-
chylogus aut Mammaetrectus, quos olim ceu rarum thesaurum
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ſieht wie ſehr ſich die Methode veraͤnderte.
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/301>, abgerufen am 21.06.2024.
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