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Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 1. Berlin, 1834.

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Kap. II. Die Kirche im Anf. des 16. Jahrh.
schah etwas ähnliches auch in Deutschland. Dort trat
die Freigeisterei, welche niemals ganz unterdrückt werden
kann, in die literarischen Elemente ein, und bildete sich
hier und da zu einem entschiedenen Unglauben aus. Auch
eine tiefere Theologie, aus unbekannten Quellen entsprungen,
hatte von der Kirche zwar beseitigt, aber niemals unter-
drückt werden können. Diese trat zu den literarischen Be-
mühungen in Deutschland. In dieser Hinsicht finde ich
merkwürdig, daß sich schon im Jahre 1513 die böhmischen
Brüder dem Erasmus näherten, der doch sonst eine ganz
andere Richtung hatte 1).

Und so führte die Entwickelung des Jahrhunderts
jenseit und diesseit der Alpen zu einer Opposition wider
die Kirche. Jenseit hing sie mit Wissenschaft und Litera-
tur zusammen, diesseit entsprang sie aus geistlichen Stu-
dien und tieferer Theologie. Dort war sie negativ und
ungläubig: hier war sie positiv und gläubig. Dort hob
sie den Grund der Kirche vollends auf: hier stellte sie den-
selben wieder her. Dort war sie spöttisch, satirisch, und
unterwarf sich der Gewalt: hier war sie voll Ernst und
Ingrimm und erhob sich zu dem kühnsten Angriff, der je
auf die römische Kirche geschehen.

Man hat es zufällig gefunden, daß dieser zuerst dem
Mißbrauche galt, den man mit dem Ablaß trieb. Al-
lein wie die Veräußerung des Innerlichsten, die der Ab-
laß in sich schloß, den schadhaften Punkt des ganzen
Wesens, der in der Verweltlichung der geistlichen Elemente

1) Füßlin: Kirchen- und Ketzergeschichte II, 82.

Kap. II. Die Kirche im Anf. des 16. Jahrh.
ſchah etwas aͤhnliches auch in Deutſchland. Dort trat
die Freigeiſterei, welche niemals ganz unterdruͤckt werden
kann, in die literariſchen Elemente ein, und bildete ſich
hier und da zu einem entſchiedenen Unglauben aus. Auch
eine tiefere Theologie, aus unbekannten Quellen entſprungen,
hatte von der Kirche zwar beſeitigt, aber niemals unter-
druͤckt werden koͤnnen. Dieſe trat zu den literariſchen Be-
muͤhungen in Deutſchland. In dieſer Hinſicht finde ich
merkwuͤrdig, daß ſich ſchon im Jahre 1513 die boͤhmiſchen
Bruͤder dem Erasmus naͤherten, der doch ſonſt eine ganz
andere Richtung hatte 1).

Und ſo fuͤhrte die Entwickelung des Jahrhunderts
jenſeit und dieſſeit der Alpen zu einer Oppoſition wider
die Kirche. Jenſeit hing ſie mit Wiſſenſchaft und Litera-
tur zuſammen, dieſſeit entſprang ſie aus geiſtlichen Stu-
dien und tieferer Theologie. Dort war ſie negativ und
unglaͤubig: hier war ſie poſitiv und glaͤubig. Dort hob
ſie den Grund der Kirche vollends auf: hier ſtellte ſie den-
ſelben wieder her. Dort war ſie ſpoͤttiſch, ſatiriſch, und
unterwarf ſich der Gewalt: hier war ſie voll Ernſt und
Ingrimm und erhob ſich zu dem kuͤhnſten Angriff, der je
auf die roͤmiſche Kirche geſchehen.

Man hat es zufaͤllig gefunden, daß dieſer zuerſt dem
Mißbrauche galt, den man mit dem Ablaß trieb. Al-
lein wie die Veraͤußerung des Innerlichſten, die der Ab-
laß in ſich ſchloß, den ſchadhaften Punkt des ganzen
Weſens, der in der Verweltlichung der geiſtlichen Elemente

1) Fuͤßlin: Kirchen- und Ketzergeſchichte II, 82.
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[76/0102] Kap. II. Die Kirche im Anf. des 16. Jahrh. ſchah etwas aͤhnliches auch in Deutſchland. Dort trat die Freigeiſterei, welche niemals ganz unterdruͤckt werden kann, in die literariſchen Elemente ein, und bildete ſich hier und da zu einem entſchiedenen Unglauben aus. Auch eine tiefere Theologie, aus unbekannten Quellen entſprungen, hatte von der Kirche zwar beſeitigt, aber niemals unter- druͤckt werden koͤnnen. Dieſe trat zu den literariſchen Be- muͤhungen in Deutſchland. In dieſer Hinſicht finde ich merkwuͤrdig, daß ſich ſchon im Jahre 1513 die boͤhmiſchen Bruͤder dem Erasmus naͤherten, der doch ſonſt eine ganz andere Richtung hatte 1). Und ſo fuͤhrte die Entwickelung des Jahrhunderts jenſeit und dieſſeit der Alpen zu einer Oppoſition wider die Kirche. Jenſeit hing ſie mit Wiſſenſchaft und Litera- tur zuſammen, dieſſeit entſprang ſie aus geiſtlichen Stu- dien und tieferer Theologie. Dort war ſie negativ und unglaͤubig: hier war ſie poſitiv und glaͤubig. Dort hob ſie den Grund der Kirche vollends auf: hier ſtellte ſie den- ſelben wieder her. Dort war ſie ſpoͤttiſch, ſatiriſch, und unterwarf ſich der Gewalt: hier war ſie voll Ernſt und Ingrimm und erhob ſich zu dem kuͤhnſten Angriff, der je auf die roͤmiſche Kirche geſchehen. Man hat es zufaͤllig gefunden, daß dieſer zuerſt dem Mißbrauche galt, den man mit dem Ablaß trieb. Al- lein wie die Veraͤußerung des Innerlichſten, die der Ab- laß in ſich ſchloß, den ſchadhaften Punkt des ganzen Weſens, der in der Verweltlichung der geiſtlichen Elemente 1) Fuͤßlin: Kirchen- und Ketzergeſchichte II, 82.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste01_1834/102>, abgerufen am 05.07.2024.