Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Pallast Giustiniani.
füllt sie aus. Sie giebt die hellste, klärste Vorstel-
lung von dem, was wir zu sehen wünschen, und als
sichtbar zu denken gewohnt sind. Die Mahlerei er-
schüttert das Herz nicht, macht nicht erblassen oder
zittern: aber sie ladet es zur ruhigen heiteren Mit-
empfindung ein.

Vermuthung
über die
Stärke der
Würkung,
welche die
Mahlerei in
Verglei-
chung mit
der Musik
und der
Dichtkunst
gewähre.

Kurz! die Mahlerei hat den ausgezeichneten
Charakter, (Fehler oder Vorzug?) der sie von an-
dern Künsten, die mit ihr für Einbildungskraft und
Empfindungsvermögen arbeiten, unterscheidet: Sie
giebt wenig, aber das Wenige so gut als eine. So
viel umfassend wie die Dichtkunst, so mächtig hin-
reissend wie die Musik ist sie nicht; aber den Ein-
druck, den wir von der eingeschränkten Gelegenheit
die stumme Natur deutlich mit einem Blicke zu ver-
stehen, erhalten; den gewährt sie mit einer solchen
Ausfüllung aller Forderungen, welche Bildungs-
und Empfindungsvermögen daran zu machen berech-
tigt sind, als die Dichtkunst und Musik ihn nicht zu
geben im Stande sind. Dieser Satz muß unum-
stößlich bleiben, bis Dichtkunst und Musik durch
hörbare Schilderung der Form und des Ausdrucks
der Gebärden einer reuigen Magdalena, eben den
Eindruck auf mich machen werden, den der Anblick
des Bildes selbst von Guido Reni auf mich gemacht
hat. Stärker, vollständiger klagen können sie
mich die Heilige hören lassen, und dies Hören
wird stärker, vollständiger auf mich würken, als
das bloße Sehen; Aber mich die Heilige mit Thrä-
nenvollem Auge und zerknirschter Brust vollständi-
ger, stärker erblicken lassen, das können sie nicht.
Alles was der bloße stumme Anblick gewährt, giebt

die

Pallaſt Giuſtiniani.
fuͤllt ſie aus. Sie giebt die hellſte, klaͤrſte Vorſtel-
lung von dem, was wir zu ſehen wuͤnſchen, und als
ſichtbar zu denken gewohnt ſind. Die Mahlerei er-
ſchuͤttert das Herz nicht, macht nicht erblaſſen oder
zittern: aber ſie ladet es zur ruhigen heiteren Mit-
empfindung ein.

Vermuthung
uͤber die
Staͤrke der
Wuͤrkung,
welche die
Mahlerei in
Verglei-
chung mit
der Muſik
und der
Dichtkunſt
gewaͤhre.

Kurz! die Mahlerei hat den ausgezeichneten
Charakter, (Fehler oder Vorzug?) der ſie von an-
dern Kuͤnſten, die mit ihr fuͤr Einbildungskraft und
Empfindungsvermoͤgen arbeiten, unterſcheidet: Sie
giebt wenig, aber das Wenige ſo gut als eine. So
viel umfaſſend wie die Dichtkunſt, ſo maͤchtig hin-
reiſſend wie die Muſik iſt ſie nicht; aber den Ein-
druck, den wir von der eingeſchraͤnkten Gelegenheit
die ſtumme Natur deutlich mit einem Blicke zu ver-
ſtehen, erhalten; den gewaͤhrt ſie mit einer ſolchen
Ausfuͤllung aller Forderungen, welche Bildungs-
und Empfindungsvermoͤgen daran zu machen berech-
tigt ſind, als die Dichtkunſt und Muſik ihn nicht zu
geben im Stande ſind. Dieſer Satz muß unum-
ſtoͤßlich bleiben, bis Dichtkunſt und Muſik durch
hoͤrbare Schilderung der Form und des Ausdrucks
der Gebaͤrden einer reuigen Magdalena, eben den
Eindruck auf mich machen werden, den der Anblick
des Bildes ſelbſt von Guido Reni auf mich gemacht
hat. Staͤrker, vollſtaͤndiger klagen koͤnnen ſie
mich die Heilige hoͤren laſſen, und dies Hoͤren
wird ſtaͤrker, vollſtaͤndiger auf mich wuͤrken, als
das bloße Sehen; Aber mich die Heilige mit Thraͤ-
nenvollem Auge und zerknirſchter Bruſt vollſtaͤndi-
ger, ſtaͤrker erblicken laſſen, das koͤnnen ſie nicht.
Alles was der bloße ſtumme Anblick gewaͤhrt, giebt

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0056" n="32"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Palla&#x017F;t Giu&#x017F;tiniani.</hi></fw><lb/>
fu&#x0364;llt &#x017F;ie aus. Sie giebt die hell&#x017F;te, kla&#x0364;r&#x017F;te Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung von dem, was wir zu &#x017F;ehen wu&#x0364;n&#x017F;chen, und als<lb/>
&#x017F;ichtbar zu denken gewohnt &#x017F;ind. Die Mahlerei er-<lb/>
&#x017F;chu&#x0364;ttert das Herz nicht, macht nicht erbla&#x017F;&#x017F;en oder<lb/>
zittern: aber &#x017F;ie ladet es zur ruhigen heiteren Mit-<lb/>
empfindung ein.</p><lb/>
        <note place="left">Vermuthung<lb/>
u&#x0364;ber die<lb/>
Sta&#x0364;rke der<lb/>
Wu&#x0364;rkung,<lb/>
welche die<lb/>
Mahlerei in<lb/>
Verglei-<lb/>
chung mit<lb/>
der Mu&#x017F;ik<lb/>
und der<lb/>
Dichtkun&#x017F;t<lb/>
gewa&#x0364;hre.</note>
        <p>Kurz! die Mahlerei hat den ausgezeichneten<lb/>
Charakter, (Fehler oder Vorzug?) der &#x017F;ie von an-<lb/>
dern Ku&#x0364;n&#x017F;ten, die mit ihr fu&#x0364;r Einbildungskraft und<lb/>
Empfindungsvermo&#x0364;gen arbeiten, unter&#x017F;cheidet: Sie<lb/>
giebt wenig, aber das Wenige &#x017F;o gut als eine. So<lb/>
viel umfa&#x017F;&#x017F;end wie die Dichtkun&#x017F;t, &#x017F;o ma&#x0364;chtig hin-<lb/>
rei&#x017F;&#x017F;end wie die Mu&#x017F;ik i&#x017F;t &#x017F;ie nicht; aber den Ein-<lb/>
druck, den wir von der einge&#x017F;chra&#x0364;nkten Gelegenheit<lb/>
die &#x017F;tumme Natur deutlich mit einem Blicke zu ver-<lb/>
&#x017F;tehen, erhalten; den gewa&#x0364;hrt &#x017F;ie mit einer &#x017F;olchen<lb/>
Ausfu&#x0364;llung aller Forderungen, welche Bildungs-<lb/>
und Empfindungsvermo&#x0364;gen daran zu machen berech-<lb/>
tigt &#x017F;ind, als die Dichtkun&#x017F;t und Mu&#x017F;ik ihn nicht zu<lb/>
geben im Stande &#x017F;ind. Die&#x017F;er Satz muß unum-<lb/>
&#x017F;to&#x0364;ßlich bleiben, bis Dichtkun&#x017F;t und Mu&#x017F;ik durch<lb/>
ho&#x0364;rbare Schilderung der Form und des Ausdrucks<lb/>
der Geba&#x0364;rden einer reuigen Magdalena, eben den<lb/>
Eindruck auf mich machen werden, den der Anblick<lb/>
des Bildes &#x017F;elb&#x017F;t von Guido Reni auf mich gemacht<lb/>
hat. <hi rendition="#fr">Sta&#x0364;rker, voll&#x017F;ta&#x0364;ndiger klagen</hi> ko&#x0364;nnen &#x017F;ie<lb/>
mich die Heilige <hi rendition="#fr">ho&#x0364;ren</hi> la&#x017F;&#x017F;en, und dies <hi rendition="#fr">Ho&#x0364;ren</hi><lb/>
wird <hi rendition="#fr">&#x017F;ta&#x0364;rker, voll&#x017F;ta&#x0364;ndiger</hi> auf mich wu&#x0364;rken, als<lb/>
das bloße <hi rendition="#fr">Sehen;</hi> Aber mich die Heilige mit Thra&#x0364;-<lb/>
nenvollem Auge und zerknir&#x017F;chter Bru&#x017F;t <hi rendition="#fr">voll&#x017F;ta&#x0364;ndi-<lb/>
ger, &#x017F;ta&#x0364;rker erblicken</hi> la&#x017F;&#x017F;en, das ko&#x0364;nnen &#x017F;ie nicht.<lb/>
Alles was der bloße &#x017F;tumme Anblick gewa&#x0364;hrt, giebt<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0056] Pallaſt Giuſtiniani. fuͤllt ſie aus. Sie giebt die hellſte, klaͤrſte Vorſtel- lung von dem, was wir zu ſehen wuͤnſchen, und als ſichtbar zu denken gewohnt ſind. Die Mahlerei er- ſchuͤttert das Herz nicht, macht nicht erblaſſen oder zittern: aber ſie ladet es zur ruhigen heiteren Mit- empfindung ein. Kurz! die Mahlerei hat den ausgezeichneten Charakter, (Fehler oder Vorzug?) der ſie von an- dern Kuͤnſten, die mit ihr fuͤr Einbildungskraft und Empfindungsvermoͤgen arbeiten, unterſcheidet: Sie giebt wenig, aber das Wenige ſo gut als eine. So viel umfaſſend wie die Dichtkunſt, ſo maͤchtig hin- reiſſend wie die Muſik iſt ſie nicht; aber den Ein- druck, den wir von der eingeſchraͤnkten Gelegenheit die ſtumme Natur deutlich mit einem Blicke zu ver- ſtehen, erhalten; den gewaͤhrt ſie mit einer ſolchen Ausfuͤllung aller Forderungen, welche Bildungs- und Empfindungsvermoͤgen daran zu machen berech- tigt ſind, als die Dichtkunſt und Muſik ihn nicht zu geben im Stande ſind. Dieſer Satz muß unum- ſtoͤßlich bleiben, bis Dichtkunſt und Muſik durch hoͤrbare Schilderung der Form und des Ausdrucks der Gebaͤrden einer reuigen Magdalena, eben den Eindruck auf mich machen werden, den der Anblick des Bildes ſelbſt von Guido Reni auf mich gemacht hat. Staͤrker, vollſtaͤndiger klagen koͤnnen ſie mich die Heilige hoͤren laſſen, und dies Hoͤren wird ſtaͤrker, vollſtaͤndiger auf mich wuͤrken, als das bloße Sehen; Aber mich die Heilige mit Thraͤ- nenvollem Auge und zerknirſchter Bruſt vollſtaͤndi- ger, ſtaͤrker erblicken laſſen, das koͤnnen ſie nicht. Alles was der bloße ſtumme Anblick gewaͤhrt, giebt die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/56
Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/56>, abgerufen am 27.04.2024.