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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

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in der Bildhauerei.
aus der Grundquelle der Uebereinstimmung der Theile
zum Ganzen entwickelte Idee der Schönheit.

Alle diese Ursachen fallen bei uns weg. Wir
denken uns den sittlich vollkommenen Menschen wohl
ganz getrennt von dem physisch vollkommenen: we-
nigstens braucht der moralische Held nach unsern Be-
griffen nicht der schönste Mensch zu seyn. Unsere po-
litischen Verhältnisse geben uns gar keine, und unsere
geselligen nur eine sehr geringe Veranlassung, auf
körperliche Gestalt einen besondern Werth zu legen.
Unsere gröberen Sinne werden durch fleischigte aus-
geschweifte Formen viel stärker in Bewegung gesetzt,
als durch einfache und übereinstimmende Ordnung
der Theile zum Ganzen.

Das Vergnügen, was wir an einer schönen Ge-
stalt empfinden, gehört unserm Verstande, unserm
Nachdenken: es ist ein gequältes Werk, ein fremder
von den Griechen hergeholter Geschmack, der hier, wie
in so vielen andern Dingen, mit unsern sittlichen und
religiösen Begriffen gerade zu im Widerspruche steht.

Denn unsere von der Religion gebildete Moral
verbietet uns auf einen so zufälligen Vorzug, als der
einer schönen Gestalt ist, irgend einigen Werth zu le-
gen, und es hat Zeiten gegeben, in denen man es
zur Gewissenssache hat machen wollen, den Heiland,
der uns zum Vorbilde menschlicher Vollkommenheit
aufgestellet ist, der sich aber aller weltlichen Vortheile
entäussert, Schmerzen und Leiden in seinem Leben auf
sich genommen hatte, unter einer schönen und gesun-
den Gestalt zu denken.

Am wenigsten aber läßt eben diese christliche
Sittenlehre den Ausdruck des Bewußtseyns einer

thäti-

in der Bildhauerei.
aus der Grundquelle der Uebereinſtimmung der Theile
zum Ganzen entwickelte Idee der Schoͤnheit.

Alle dieſe Urſachen fallen bei uns weg. Wir
denken uns den ſittlich vollkommenen Menſchen wohl
ganz getrennt von dem phyſiſch vollkommenen: we-
nigſtens braucht der moraliſche Held nach unſern Be-
griffen nicht der ſchoͤnſte Menſch zu ſeyn. Unſere po-
litiſchen Verhaͤltniſſe geben uns gar keine, und unſere
geſelligen nur eine ſehr geringe Veranlaſſung, auf
koͤrperliche Geſtalt einen beſondern Werth zu legen.
Unſere groͤberen Sinne werden durch fleiſchigte aus-
geſchweifte Formen viel ſtaͤrker in Bewegung geſetzt,
als durch einfache und uͤbereinſtimmende Ordnung
der Theile zum Ganzen.

Das Vergnuͤgen, was wir an einer ſchoͤnen Ge-
ſtalt empfinden, gehoͤrt unſerm Verſtande, unſerm
Nachdenken: es iſt ein gequaͤltes Werk, ein fremder
von den Griechen hergeholter Geſchmack, der hier, wie
in ſo vielen andern Dingen, mit unſern ſittlichen und
religioͤſen Begriffen gerade zu im Widerſpruche ſteht.

Denn unſere von der Religion gebildete Moral
verbietet uns auf einen ſo zufaͤlligen Vorzug, als der
einer ſchoͤnen Geſtalt iſt, irgend einigen Werth zu le-
gen, und es hat Zeiten gegeben, in denen man es
zur Gewiſſensſache hat machen wollen, den Heiland,
der uns zum Vorbilde menſchlicher Vollkommenheit
aufgeſtellet iſt, der ſich aber aller weltlichen Vortheile
entaͤuſſert, Schmerzen und Leiden in ſeinem Leben auf
ſich genommen hatte, unter einer ſchoͤnen und geſun-
den Geſtalt zu denken.

Am wenigſten aber laͤßt eben dieſe chriſtliche
Sittenlehre den Ausdruck des Bewußtſeyns einer

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[187/0211] in der Bildhauerei. aus der Grundquelle der Uebereinſtimmung der Theile zum Ganzen entwickelte Idee der Schoͤnheit. Alle dieſe Urſachen fallen bei uns weg. Wir denken uns den ſittlich vollkommenen Menſchen wohl ganz getrennt von dem phyſiſch vollkommenen: we- nigſtens braucht der moraliſche Held nach unſern Be- griffen nicht der ſchoͤnſte Menſch zu ſeyn. Unſere po- litiſchen Verhaͤltniſſe geben uns gar keine, und unſere geſelligen nur eine ſehr geringe Veranlaſſung, auf koͤrperliche Geſtalt einen beſondern Werth zu legen. Unſere groͤberen Sinne werden durch fleiſchigte aus- geſchweifte Formen viel ſtaͤrker in Bewegung geſetzt, als durch einfache und uͤbereinſtimmende Ordnung der Theile zum Ganzen. Das Vergnuͤgen, was wir an einer ſchoͤnen Ge- ſtalt empfinden, gehoͤrt unſerm Verſtande, unſerm Nachdenken: es iſt ein gequaͤltes Werk, ein fremder von den Griechen hergeholter Geſchmack, der hier, wie in ſo vielen andern Dingen, mit unſern ſittlichen und religioͤſen Begriffen gerade zu im Widerſpruche ſteht. Denn unſere von der Religion gebildete Moral verbietet uns auf einen ſo zufaͤlligen Vorzug, als der einer ſchoͤnen Geſtalt iſt, irgend einigen Werth zu le- gen, und es hat Zeiten gegeben, in denen man es zur Gewiſſensſache hat machen wollen, den Heiland, der uns zum Vorbilde menſchlicher Vollkommenheit aufgeſtellet iſt, der ſich aber aller weltlichen Vortheile entaͤuſſert, Schmerzen und Leiden in ſeinem Leben auf ſich genommen hatte, unter einer ſchoͤnen und geſun- den Geſtalt zu denken. Am wenigſten aber laͤßt eben dieſe chriſtliche Sittenlehre den Ausdruck des Bewußtſeyns einer thaͤti-

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/211>, abgerufen am 23.11.2024.