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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

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der Französischen Academie.
nach der Natur gebildet hat, entfernt von dem Ori-
ginale und seiner Copie, aufs Neue aus dem Kopfe
zu bilden. Ich werde ihm rathen, es eben so mit
der Antike zu machen, und dann aus beiden ein zu-
sammengesetztes Bild, ein Ideal zu schaffen.

Aber dieses Ideal muß Ausdruck haben, be-
stimmten Ausdruck des ruhigen Charakters einer ge-
wissen Menschenart, oder eines gewissen Affekts.

Ich werde dem Künstler die Elektra des So-
phocles zu lesen geben, oder seinen Philoktet: Durch-
drungen von den Hauptzügen des Charakters dieser
Personen, die in jedem Worte dieses musterhaften
Darstellers der Menschen so deutlich, so bestimmt, und
doch, nach der Bemerkung des Aristoteles, so allge-
mein nach einer Gattung von Charakteren gezeichnet
sind, wird er den hohen weiblichen Geist der Elektra,
den hohen männlichen des Philoktets zuerst in ihren
ruhigen Formen errathen lassen wollen, bald sie zei-
gen erbittert über erlittenes Unrecht. Endlich wird
er, wenn er Mahler ist, sie mir gar in einer vollstän-
digen leidenschaftlichen Lage zeigen: den Philoktet,
wie er seinen Feind durchbohren will, die Elektra, die
ihren Bruder wiedererkennt.

Und so wird der Künstler nach und nach zur
Treue im Nachbilden und im Zusammensetzen; von
da zur Schönheit, -- zum Zeitalter des Praxite-
les, -- vorgerückt seyn. Denn sein stetes Studium
nach den Antiken und den besten Werken der Neuern,
die er noch mehr betrachtet, überdenkt, umschafft,
als copirt, haben nach und nach seine Seele so ge-
stimmt, daß jede Vorstellung, die sie aus der Na-
tur aufnimmt und wiedergiebt, gleichsam wie der Ton

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der Franzoͤſiſchen Academie.
nach der Natur gebildet hat, entfernt von dem Ori-
ginale und ſeiner Copie, aufs Neue aus dem Kopfe
zu bilden. Ich werde ihm rathen, es eben ſo mit
der Antike zu machen, und dann aus beiden ein zu-
ſammengeſetztes Bild, ein Ideal zu ſchaffen.

Aber dieſes Ideal muß Ausdruck haben, be-
ſtimmten Ausdruck des ruhigen Charakters einer ge-
wiſſen Menſchenart, oder eines gewiſſen Affekts.

Ich werde dem Kuͤnſtler die Elektra des So-
phocles zu leſen geben, oder ſeinen Philoktet: Durch-
drungen von den Hauptzuͤgen des Charakters dieſer
Perſonen, die in jedem Worte dieſes muſterhaften
Darſtellers der Menſchen ſo deutlich, ſo beſtimmt, und
doch, nach der Bemerkung des Ariſtoteles, ſo allge-
mein nach einer Gattung von Charakteren gezeichnet
ſind, wird er den hohen weiblichen Geiſt der Elektra,
den hohen maͤnnlichen des Philoktets zuerſt in ihren
ruhigen Formen errathen laſſen wollen, bald ſie zei-
gen erbittert uͤber erlittenes Unrecht. Endlich wird
er, wenn er Mahler iſt, ſie mir gar in einer vollſtaͤn-
digen leidenſchaftlichen Lage zeigen: den Philoktet,
wie er ſeinen Feind durchbohren will, die Elektra, die
ihren Bruder wiedererkennt.

Und ſo wird der Kuͤnſtler nach und nach zur
Treue im Nachbilden und im Zuſammenſetzen; von
da zur Schoͤnheit, — zum Zeitalter des Praxite-
les, — vorgeruͤckt ſeyn. Denn ſein ſtetes Studium
nach den Antiken und den beſten Werken der Neuern,
die er noch mehr betrachtet, uͤberdenkt, umſchafft,
als copirt, haben nach und nach ſeine Seele ſo ge-
ſtimmt, daß jede Vorſtellung, die ſie aus der Na-
tur aufnimmt und wiedergiebt, gleichſam wie der Ton

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[153/0177] der Franzoͤſiſchen Academie. nach der Natur gebildet hat, entfernt von dem Ori- ginale und ſeiner Copie, aufs Neue aus dem Kopfe zu bilden. Ich werde ihm rathen, es eben ſo mit der Antike zu machen, und dann aus beiden ein zu- ſammengeſetztes Bild, ein Ideal zu ſchaffen. Aber dieſes Ideal muß Ausdruck haben, be- ſtimmten Ausdruck des ruhigen Charakters einer ge- wiſſen Menſchenart, oder eines gewiſſen Affekts. Ich werde dem Kuͤnſtler die Elektra des So- phocles zu leſen geben, oder ſeinen Philoktet: Durch- drungen von den Hauptzuͤgen des Charakters dieſer Perſonen, die in jedem Worte dieſes muſterhaften Darſtellers der Menſchen ſo deutlich, ſo beſtimmt, und doch, nach der Bemerkung des Ariſtoteles, ſo allge- mein nach einer Gattung von Charakteren gezeichnet ſind, wird er den hohen weiblichen Geiſt der Elektra, den hohen maͤnnlichen des Philoktets zuerſt in ihren ruhigen Formen errathen laſſen wollen, bald ſie zei- gen erbittert uͤber erlittenes Unrecht. Endlich wird er, wenn er Mahler iſt, ſie mir gar in einer vollſtaͤn- digen leidenſchaftlichen Lage zeigen: den Philoktet, wie er ſeinen Feind durchbohren will, die Elektra, die ihren Bruder wiedererkennt. Und ſo wird der Kuͤnſtler nach und nach zur Treue im Nachbilden und im Zuſammenſetzen; von da zur Schoͤnheit, — zum Zeitalter des Praxite- les, — vorgeruͤckt ſeyn. Denn ſein ſtetes Studium nach den Antiken und den beſten Werken der Neuern, die er noch mehr betrachtet, uͤberdenkt, umſchafft, als copirt, haben nach und nach ſeine Seele ſo ge- ſtimmt, daß jede Vorſtellung, die ſie aus der Na- tur aufnimmt und wiedergiebt, gleichſam wie der Ton der K 5

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/177>, abgerufen am 06.05.2024.