Dies geschieht nicht bei uns. Man setzt, mit dem Ausdruck: "Der junge Mann muß erst sehen lernen," diesen hinter eine fein gestrichelte Zeichnung seines Meisters, deren ungetreuer Reiz diesem viel- leicht den Platz eines Professors bei der Academie er- worben hat, und läßt ihn wieder nachstricheln. Der junge Mann denkt viel an die Uebereinstim- mung seines Vorbildes mit der Natur; er denkt nur an dessen wohlgefällige Form, und ahmt das Züfäl- lige zur Wahrheit mit eben der Treue nach, wie das Nothwendige.
Anders genießt man, anders lernt man, das sollte bedacht werden. Selbst wenn man den Jüng- ling zur steinernen Nachbildung der Figur bringt, so lehrt man ihn doch nur wieder, wiewohl in erschwer- ter Maaße, die Natur mit fremden Augen sehen. Was ist die Folge? Daß der junge Künstler, bei der Reproducirung eines Gegenstandes aus der Natur, nicht das liefert, was ihm, sondern was seinem Mei- ster daran aufgefallen ist: nur mit dem Unterschiede, weder so eigenthümlich, noch so richtig, und wahr. Der Copist kann das Wesentliche von dem Unwe- sentlichen nicht so genau unterscheiden, wie der erste Nachbilder der Natur; er kann unter dem Wesentli- chen nicht dasjenige aussuchen, wodurch es ihm am auffallendsten wird, oder wodurch er es wenigstens dem Beschauer seiner Nachbildung vermöge eines be- sondern Talents vorzüglich auffallend würde ge- macht haben. Das junge Genie, das durch ein wahres Colorit eine mittelmäßig gezeichnete Figur als wahr erscheinen lassen könnte, wird, wenn es viel nach Raphael copirt, nur eine Andeutung eines
Bestand-
Pallaſt
Dies geſchieht nicht bei uns. Man ſetzt, mit dem Ausdruck: „Der junge Mann muß erſt ſehen lernen,“ dieſen hinter eine fein geſtrichelte Zeichnung ſeines Meiſters, deren ungetreuer Reiz dieſem viel- leicht den Platz eines Profeſſors bei der Academie er- worben hat, und laͤßt ihn wieder nachſtricheln. Der junge Mann denkt viel an die Uebereinſtim- mung ſeines Vorbildes mit der Natur; er denkt nur an deſſen wohlgefaͤllige Form, und ahmt das Zuͤfaͤl- lige zur Wahrheit mit eben der Treue nach, wie das Nothwendige.
Anders genießt man, anders lernt man, das ſollte bedacht werden. Selbſt wenn man den Juͤng- ling zur ſteinernen Nachbildung der Figur bringt, ſo lehrt man ihn doch nur wieder, wiewohl in erſchwer- ter Maaße, die Natur mit fremden Augen ſehen. Was iſt die Folge? Daß der junge Kuͤnſtler, bei der Reproducirung eines Gegenſtandes aus der Natur, nicht das liefert, was ihm, ſondern was ſeinem Mei- ſter daran aufgefallen iſt: nur mit dem Unterſchiede, weder ſo eigenthuͤmlich, noch ſo richtig, und wahr. Der Copiſt kann das Weſentliche von dem Unwe- ſentlichen nicht ſo genau unterſcheiden, wie der erſte Nachbilder der Natur; er kann unter dem Weſentli- chen nicht dasjenige ausſuchen, wodurch es ihm am auffallendſten wird, oder wodurch er es wenigſtens dem Beſchauer ſeiner Nachbildung vermoͤge eines be- ſondern Talents vorzuͤglich auffallend wuͤrde ge- macht haben. Das junge Genie, das durch ein wahres Colorit eine mittelmaͤßig gezeichnete Figur als wahr erſcheinen laſſen koͤnnte, wird, wenn es viel nach Raphael copirt, nur eine Andeutung eines
Beſtand-
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Pallaſt
Dies geſchieht nicht bei uns. Man ſetzt, mit
dem Ausdruck: „Der junge Mann muß erſt ſehen
lernen,“ dieſen hinter eine fein geſtrichelte Zeichnung
ſeines Meiſters, deren ungetreuer Reiz dieſem viel-
leicht den Platz eines Profeſſors bei der Academie er-
worben hat, und laͤßt ihn wieder nachſtricheln.
Der junge Mann denkt viel an die Uebereinſtim-
mung ſeines Vorbildes mit der Natur; er denkt nur
an deſſen wohlgefaͤllige Form, und ahmt das Zuͤfaͤl-
lige zur Wahrheit mit eben der Treue nach, wie das
Nothwendige.
Anders genießt man, anders lernt man, das
ſollte bedacht werden. Selbſt wenn man den Juͤng-
ling zur ſteinernen Nachbildung der Figur bringt, ſo
lehrt man ihn doch nur wieder, wiewohl in erſchwer-
ter Maaße, die Natur mit fremden Augen ſehen.
Was iſt die Folge? Daß der junge Kuͤnſtler, bei der
Reproducirung eines Gegenſtandes aus der Natur,
nicht das liefert, was ihm, ſondern was ſeinem Mei-
ſter daran aufgefallen iſt: nur mit dem Unterſchiede,
weder ſo eigenthuͤmlich, noch ſo richtig, und wahr.
Der Copiſt kann das Weſentliche von dem Unwe-
ſentlichen nicht ſo genau unterſcheiden, wie der erſte
Nachbilder der Natur; er kann unter dem Weſentli-
chen nicht dasjenige ausſuchen, wodurch es ihm am
auffallendſten wird, oder wodurch er es wenigſtens
dem Beſchauer ſeiner Nachbildung vermoͤge eines be-
ſondern Talents vorzuͤglich auffallend wuͤrde ge-
macht haben. Das junge Genie, das durch ein
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als wahr erſcheinen laſſen koͤnnte, wird, wenn es
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/168>, abgerufen am 24.11.2024.
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