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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787.

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Der Vaticanische Pallast.

Dem angehenden Künstler, der hauptsächlich
nach Wahrheit streben muß, ist nicht anzurathen,
mit dem Copiren nach dieser Statue den Anfang zu
machen. Aber er schaue sie oft an, um den Begriff
hoher Schönheit in seiner Seele zu gründen, und um
zu lernen, daß das Genie, wenn es seine Ideen ver-
körpert, mehr an das Gesetz der Natur, an ihre Ver-
fahrungsart im Allgemeinen, als an die Treue der
Nachahmung ihrer einzelnen Productionen gebunden
ist; daß die Disharmonie der einzelnen Theile allein
die Unwahrscheinlichkeit fühlbar macht, und daß der
große Künstler durch die einfache belebende Idee, die
er seinem Werke im Ganzen einhaucht, auch das nicht
getreu Nachgeahmte als wahr darstellen könne.

Das Bein, mit welchem Apollo vortritt, ist um
9 Minuten länger als das hintere. So machte der
Künstler die Verkürzung fühlbarer, ohne Nachtheil
der Verhältnisse.

Daß aber das eine Knie etwas eingebogen ist,
liegt wahrscheinlich nicht an dem Künstler des Werks,
sondern an dem Handwerker, den man dazu brauchte,
die abgebrochenen Beine wieder anzusetzen.

Neu sind: die linke Hand, und die Finger der
Rechten.

+ Antinous. So nennen wir die Statue einesAntinous.
jungen Mannes im Belvedere, von deren wahren
Bedeutung wir nichts wissen. 4)

Dem
4) Antinous ein schöner Jüngling aus Bythinien war
der Liebling des Kaisers Hadrian. Er ertrank im
Nil, und zur Linderung des Schmerzens seines
Freundes, vergötterte ihn die Kunst, die Hadrian
beschützte,
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Der Vaticaniſche Pallaſt.

Dem angehenden Kuͤnſtler, der hauptſaͤchlich
nach Wahrheit ſtreben muß, iſt nicht anzurathen,
mit dem Copiren nach dieſer Statue den Anfang zu
machen. Aber er ſchaue ſie oft an, um den Begriff
hoher Schoͤnheit in ſeiner Seele zu gruͤnden, und um
zu lernen, daß das Genie, wenn es ſeine Ideen ver-
koͤrpert, mehr an das Geſetz der Natur, an ihre Ver-
fahrungsart im Allgemeinen, als an die Treue der
Nachahmung ihrer einzelnen Productionen gebunden
iſt; daß die Disharmonie der einzelnen Theile allein
die Unwahrſcheinlichkeit fuͤhlbar macht, und daß der
große Kuͤnſtler durch die einfache belebende Idee, die
er ſeinem Werke im Ganzen einhaucht, auch das nicht
getreu Nachgeahmte als wahr darſtellen koͤnne.

Das Bein, mit welchem Apollo vortritt, iſt um
9 Minuten laͤnger als das hintere. So machte der
Kuͤnſtler die Verkuͤrzung fuͤhlbarer, ohne Nachtheil
der Verhaͤltniſſe.

Daß aber das eine Knie etwas eingebogen iſt,
liegt wahrſcheinlich nicht an dem Kuͤnſtler des Werks,
ſondern an dem Handwerker, den man dazu brauchte,
die abgebrochenen Beine wieder anzuſetzen.

Neu ſind: die linke Hand, und die Finger der
Rechten.

Antinous. So nennen wir die Statue einesAntinous.
jungen Mannes im Belvedere, von deren wahren
Bedeutung wir nichts wiſſen. 4)

Dem
4) Antinous ein ſchoͤner Juͤngling aus Bythinien war
der Liebling des Kaiſers Hadrian. Er ertrank im
Nil, und zur Linderung des Schmerzens ſeines
Freundes, vergoͤtterte ihn die Kunſt, die Hadrian
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[53/0075] Der Vaticaniſche Pallaſt. Dem angehenden Kuͤnſtler, der hauptſaͤchlich nach Wahrheit ſtreben muß, iſt nicht anzurathen, mit dem Copiren nach dieſer Statue den Anfang zu machen. Aber er ſchaue ſie oft an, um den Begriff hoher Schoͤnheit in ſeiner Seele zu gruͤnden, und um zu lernen, daß das Genie, wenn es ſeine Ideen ver- koͤrpert, mehr an das Geſetz der Natur, an ihre Ver- fahrungsart im Allgemeinen, als an die Treue der Nachahmung ihrer einzelnen Productionen gebunden iſt; daß die Disharmonie der einzelnen Theile allein die Unwahrſcheinlichkeit fuͤhlbar macht, und daß der große Kuͤnſtler durch die einfache belebende Idee, die er ſeinem Werke im Ganzen einhaucht, auch das nicht getreu Nachgeahmte als wahr darſtellen koͤnne. Das Bein, mit welchem Apollo vortritt, iſt um 9 Minuten laͤnger als das hintere. So machte der Kuͤnſtler die Verkuͤrzung fuͤhlbarer, ohne Nachtheil der Verhaͤltniſſe. Daß aber das eine Knie etwas eingebogen iſt, liegt wahrſcheinlich nicht an dem Kuͤnſtler des Werks, ſondern an dem Handwerker, den man dazu brauchte, die abgebrochenen Beine wieder anzuſetzen. Neu ſind: die linke Hand, und die Finger der Rechten. † Antinous. So nennen wir die Statue eines jungen Mannes im Belvedere, von deren wahren Bedeutung wir nichts wiſſen. 4) Antinous. Dem 4) Antinous ein ſchoͤner Juͤngling aus Bythinien war der Liebling des Kaiſers Hadrian. Er ertrank im Nil, und zur Linderung des Schmerzens ſeines Freundes, vergoͤtterte ihn die Kunſt, die Hadrian beſchuͤtzte, D 3

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/75>, abgerufen am 24.11.2024.