Die Neuheit der Gegenstände, das Hebende des Außerordentlichen, das Schaurige der rohen Wild- heit ergreifen seinen Geist mit Erstaunen: aber bald wird ihm diese Empfindung gewöhnlich, der Zauber verfliegt, und er wünscht sanftern Reitz zurück, der sein Herz zu füllen im Stande sey.
Diesen Gang glaube ich, werden die Ideen des Liebhabers nehmen, wenn er seinen Geschmack durch die Schönheit der Antiken, und durch die Wahrheit des Ausdrucks in den Gemählden Raphaels gebildet hat. Sollte er aber mit dem Studio der Gemählde des Michael Angelo den Anfang machen, so fürchte ich, er dürfte das Uebernatürliche, das immer auf unsere rohe Einbildungskraft am stärksten würkt, der Simplicität; das Uebertriebene, wofür der ungebil- dete Geist immer empfänglichen Sinn hat, dem Na- türlichen vorziehen; und so vielleicht auf immer des Gefühls des Schönen unfähig werden.
Michael An- gelo Buona- rotti.
Michael Angelo Buonarotti lebte von 1474 bis 1564 -- Er besaß bei einer brennenden Einbil- dungskraft und einem schnellen durchdringenden Witze ein Herz, dem Begriffe von Schönheit und sanfter Grazie fremd waren. Seine Bilder steigen vor ihm auf wie magische Erscheinungen, und die Natur bil- dete sich auf der Netzhaut seines Auges wie in einer Camera obscura. Der Eindruck, den die Gegen- stände auf ihn machten, war heftig; er bemeisterte sich ihrer auffallendsten Unterscheidungszeichen, und setzte diese vor den Anblick der Zuschauer mit eben der Stärke hin, womit er sie empfunden hatte. Allein wenn er nun die feineren Züge hinzuthun wollte, die
in
Der Vaticaniſche Pallaſt.
Die Neuheit der Gegenſtaͤnde, das Hebende des Außerordentlichen, das Schaurige der rohen Wild- heit ergreifen ſeinen Geiſt mit Erſtaunen: aber bald wird ihm dieſe Empfindung gewoͤhnlich, der Zauber verfliegt, und er wuͤnſcht ſanftern Reitz zuruͤck, der ſein Herz zu fuͤllen im Stande ſey.
Dieſen Gang glaube ich, werden die Ideen des Liebhabers nehmen, wenn er ſeinen Geſchmack durch die Schoͤnheit der Antiken, und durch die Wahrheit des Ausdrucks in den Gemaͤhlden Raphaels gebildet hat. Sollte er aber mit dem Studio der Gemaͤhlde des Michael Angelo den Anfang machen, ſo fuͤrchte ich, er duͤrfte das Uebernatuͤrliche, das immer auf unſere rohe Einbildungskraft am ſtaͤrkſten wuͤrkt, der Simplicitaͤt; das Uebertriebene, wofuͤr der ungebil- dete Geiſt immer empfaͤnglichen Sinn hat, dem Na- tuͤrlichen vorziehen; und ſo vielleicht auf immer des Gefuͤhls des Schoͤnen unfaͤhig werden.
Michael An- gelo Buona- rotti.
Michael Angelo Buonarotti lebte von 1474 bis 1564 — Er beſaß bei einer brennenden Einbil- dungskraft und einem ſchnellen durchdringenden Witze ein Herz, dem Begriffe von Schoͤnheit und ſanfter Grazie fremd waren. Seine Bilder ſteigen vor ihm auf wie magiſche Erſcheinungen, und die Natur bil- dete ſich auf der Netzhaut ſeines Auges wie in einer Camera obſcura. Der Eindruck, den die Gegen- ſtaͤnde auf ihn machten, war heftig; er bemeiſterte ſich ihrer auffallendſten Unterſcheidungszeichen, und ſetzte dieſe vor den Anblick der Zuſchauer mit eben der Staͤrke hin, womit er ſie empfunden hatte. Allein wenn er nun die feineren Zuͤge hinzuthun wollte, die
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
Die Neuheit der Gegenſtaͤnde, das Hebende des
Außerordentlichen, das Schaurige der rohen Wild-
heit ergreifen ſeinen Geiſt mit Erſtaunen: aber bald
wird ihm dieſe Empfindung gewoͤhnlich, der Zauber
verfliegt, und er wuͤnſcht ſanftern Reitz zuruͤck, der
ſein Herz zu fuͤllen im Stande ſey.
Dieſen Gang glaube ich, werden die Ideen des
Liebhabers nehmen, wenn er ſeinen Geſchmack durch
die Schoͤnheit der Antiken, und durch die Wahrheit
des Ausdrucks in den Gemaͤhlden Raphaels gebildet
hat. Sollte er aber mit dem Studio der Gemaͤhlde
des Michael Angelo den Anfang machen, ſo fuͤrchte
ich, er duͤrfte das Uebernatuͤrliche, das immer auf
unſere rohe Einbildungskraft am ſtaͤrkſten wuͤrkt, der
Simplicitaͤt; das Uebertriebene, wofuͤr der ungebil-
dete Geiſt immer empfaͤnglichen Sinn hat, dem Na-
tuͤrlichen vorziehen; und ſo vielleicht auf immer des
Gefuͤhls des Schoͤnen unfaͤhig werden.
Michael Angelo Buonarotti lebte von 1474 bis
1564 — Er beſaß bei einer brennenden Einbil-
dungskraft und einem ſchnellen durchdringenden Witze
ein Herz, dem Begriffe von Schoͤnheit und ſanfter
Grazie fremd waren. Seine Bilder ſteigen vor ihm
auf wie magiſche Erſcheinungen, und die Natur bil-
dete ſich auf der Netzhaut ſeines Auges wie in einer
Camera obſcura. Der Eindruck, den die Gegen-
ſtaͤnde auf ihn machten, war heftig; er bemeiſterte
ſich ihrer auffallendſten Unterſcheidungszeichen, und
ſetzte dieſe vor den Anblick der Zuſchauer mit eben der
Staͤrke hin, womit er ſie empfunden hatte. Allein
wenn er nun die feineren Zuͤge hinzuthun wollte, die
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/198>, abgerufen am 16.02.2025.
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