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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
"übelbelohnten Verdiensten. Niemals aber kann
"ich gleichgültig bleiben, wenn ich höre, daß die
"Unschuld darbt, und die Verruchten sich blähen.
"Durchgehen sie unsere Stadt itzo, da in der Messe
"Leute von allen Orten zusammen kommen. Su-
"chen sie mir den redlichen Patrioten, den Mann,
"dessen größter Ruhm in der Ehrlichkeit besteht,
"den Mann ohne Falschheit. Suchen sie ihn,
"aber übereilen sie sich nicht. Der geringste Kra-
"mer, welcher sein ganzes Vermögen auf dem
"Rücken herum trägt, ist abgerichtet, den andern
"durch Freundlichkeit, durch Zureden, durch un-
"gestümes Bitten zu betrügen; und daß dieser
"nur in Kleinigkeiten betrügt, davon hält ihn
"nicht sein Gewissen, nein sein Unvermögen, seine
"Armuth hält ihn ab. Er geht niemals vor dem
"Laden eines großen Kaufmanns vorbey, ohne
"eifersüchtig zu seyn, daß dieser oder seine Aeltern
"ein grösseres Vermögen zusammenbetrogen ha-
"ben, als er iemals hoffen kann. Jnzwischen
"thut er doch in seinem Herzen die Gelübde, sich
"und seinen Kindern zum Besten, so lange zu be-
"trügen, bis er auch ein angesehener Kaufmann
"werden kann. Kleine Schelme entschuldige ich
"noch immer eher, als Schelme von Stande;
"diese schaden mehr und werden seltner bestraft.
"Noch diesen Vormittag habe ich einen elenden
"Kerl in das Gefängniß führen sehen, welcher
"aus Hunger, und, wie ich nachdem erfuhr, aus
"äußerster Bedürfniß, worinnen er sich mit seiner
"Frau, und einigen unerzognen Kindern befindet,

"sich
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Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
„uͤbelbelohnten Verdienſten. Niemals aber kann
„ich gleichguͤltig bleiben, wenn ich hoͤre, daß die
„Unſchuld darbt, und die Verruchten ſich blaͤhen.
„Durchgehen ſie unſere Stadt itzo, da in der Meſſe
„Leute von allen Orten zuſammen kommen. Su-
„chen ſie mir den redlichen Patrioten, den Mann,
„deſſen groͤßter Ruhm in der Ehrlichkeit beſteht,
„den Mann ohne Falſchheit. Suchen ſie ihn,
„aber uͤbereilen ſie ſich nicht. Der geringſte Kra-
„mer, welcher ſein ganzes Vermoͤgen auf dem
„Ruͤcken herum traͤgt, iſt abgerichtet, den andern
„durch Freundlichkeit, durch Zureden, durch un-
„geſtuͤmes Bitten zu betruͤgen; und daß dieſer
„nur in Kleinigkeiten betruͤgt, davon haͤlt ihn
„nicht ſein Gewiſſen, nein ſein Unvermoͤgen, ſeine
„Armuth haͤlt ihn ab. Er geht niemals vor dem
„Laden eines großen Kaufmanns vorbey, ohne
„eiferſuͤchtig zu ſeyn, daß dieſer oder ſeine Aeltern
„ein groͤſſeres Vermoͤgen zuſammenbetrogen ha-
„ben, als er iemals hoffen kann. Jnzwiſchen
„thut er doch in ſeinem Herzen die Geluͤbde, ſich
„und ſeinen Kindern zum Beſten, ſo lange zu be-
„truͤgen, bis er auch ein angeſehener Kaufmann
„werden kann. Kleine Schelme entſchuldige ich
„noch immer eher, als Schelme von Stande;
„dieſe ſchaden mehr und werden ſeltner beſtraft.
„Noch dieſen Vormittag habe ich einen elenden
„Kerl in das Gefaͤngniß fuͤhren ſehen, welcher
„aus Hunger, und, wie ich nachdem erfuhr, aus
„aͤußerſter Beduͤrfniß, worinnen er ſich mit ſeiner
„Frau, und einigen unerzognen Kindern befindet,

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[67/0089] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. „uͤbelbelohnten Verdienſten. Niemals aber kann „ich gleichguͤltig bleiben, wenn ich hoͤre, daß die „Unſchuld darbt, und die Verruchten ſich blaͤhen. „Durchgehen ſie unſere Stadt itzo, da in der Meſſe „Leute von allen Orten zuſammen kommen. Su- „chen ſie mir den redlichen Patrioten, den Mann, „deſſen groͤßter Ruhm in der Ehrlichkeit beſteht, „den Mann ohne Falſchheit. Suchen ſie ihn, „aber uͤbereilen ſie ſich nicht. Der geringſte Kra- „mer, welcher ſein ganzes Vermoͤgen auf dem „Ruͤcken herum traͤgt, iſt abgerichtet, den andern „durch Freundlichkeit, durch Zureden, durch un- „geſtuͤmes Bitten zu betruͤgen; und daß dieſer „nur in Kleinigkeiten betruͤgt, davon haͤlt ihn „nicht ſein Gewiſſen, nein ſein Unvermoͤgen, ſeine „Armuth haͤlt ihn ab. Er geht niemals vor dem „Laden eines großen Kaufmanns vorbey, ohne „eiferſuͤchtig zu ſeyn, daß dieſer oder ſeine Aeltern „ein groͤſſeres Vermoͤgen zuſammenbetrogen ha- „ben, als er iemals hoffen kann. Jnzwiſchen „thut er doch in ſeinem Herzen die Geluͤbde, ſich „und ſeinen Kindern zum Beſten, ſo lange zu be- „truͤgen, bis er auch ein angeſehener Kaufmann „werden kann. Kleine Schelme entſchuldige ich „noch immer eher, als Schelme von Stande; „dieſe ſchaden mehr und werden ſeltner beſtraft. „Noch dieſen Vormittag habe ich einen elenden „Kerl in das Gefaͤngniß fuͤhren ſehen, welcher „aus Hunger, und, wie ich nachdem erfuhr, aus „aͤußerſter Beduͤrfniß, worinnen er ſich mit ſeiner „Frau, und einigen unerzognen Kindern befindet, „ſich E 2

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/89>, abgerufen am 02.05.2024.