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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
und diese Einige sind beneidenswürdig: Aber un-
sere Muttersprache ist viel reicher, als daß sie sich
auf eine so enge Bedeutung einschränken sollte.
Wenn ich sage: Jch habe Neigung gegen dieses
Frauenzimmer; so heißt das so viel: Die Augen
dieses Mädchens gefallen mir, sie hat einen schö-
nen Mund, ihre runde Hand reizt auch einen Phi-
losophen zum Kusse, sie ist wohl gebaut, ihr Gang
ist edel, ihr Fuß englisch, ihr Verstand - - -
Nein, das war falsch, der Verstand gehört nicht
dazu; genug, das Mädchen ist schön, ich liebe sie,
ich bete sie an, ich seufze, ich seufze, bis sie mich er-
hört. Und wenn diese Schöne so fein ist, daß sie
die Seufzer dieses schmachtenden Seladons nicht
allzu zeitig erhört, so hat sie das gewünschte Glück,
seine Frau zu werden. Er hat sie aus Neigung
geliebt, und aus Neigung geheirathet. Noch
einige Zeit liebt er auf eben diese Art brünstig.
Er wird ihre reizenden Augen, ihren schönen
Mund gewohnt; er liebt sie noch, ohne sie brün-
stig zu lieben. Das Feuer der Augen verliert
sich; die Liebe zu ihr wird matt. Nun wird er
gegen seine Frau gleichgültig; er wird bey dem
täglichen Umgange frostig gegen sie. Sie hat
nicht Verstand genug, seine Liebe sich zu erhalten.
Eine Krankheit stürzt mit dem Reste der Schön-
heit, alle Neigung über einen Haufen. Nun ist
sie ihm ganz unerträglich. Er seufzet noch, der
unglückliche Seladon; aber er seufzet nicht mehr
für seine Schöne. Er seufzet über sich, über die
traurige Verwandlung; über den Himmel seufzet

er,
O

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
und dieſe Einige ſind beneidenswuͤrdig: Aber un-
ſere Mutterſprache iſt viel reicher, als daß ſie ſich
auf eine ſo enge Bedeutung einſchraͤnken ſollte.
Wenn ich ſage: Jch habe Neigung gegen dieſes
Frauenzimmer; ſo heißt das ſo viel: Die Augen
dieſes Maͤdchens gefallen mir, ſie hat einen ſchoͤ-
nen Mund, ihre runde Hand reizt auch einen Phi-
loſophen zum Kuſſe, ſie iſt wohl gebaut, ihr Gang
iſt edel, ihr Fuß engliſch, ihr Verſtand ‒ ‒ ‒
Nein, das war falſch, der Verſtand gehoͤrt nicht
dazu; genug, das Maͤdchen iſt ſchoͤn, ich liebe ſie,
ich bete ſie an, ich ſeufze, ich ſeufze, bis ſie mich er-
hoͤrt. Und wenn dieſe Schoͤne ſo fein iſt, daß ſie
die Seufzer dieſes ſchmachtenden Seladons nicht
allzu zeitig erhoͤrt, ſo hat ſie das gewuͤnſchte Gluͤck,
ſeine Frau zu werden. Er hat ſie aus Neigung
geliebt, und aus Neigung geheirathet. Noch
einige Zeit liebt er auf eben dieſe Art bruͤnſtig.
Er wird ihre reizenden Augen, ihren ſchoͤnen
Mund gewohnt; er liebt ſie noch, ohne ſie bruͤn-
ſtig zu lieben. Das Feuer der Augen verliert
ſich; die Liebe zu ihr wird matt. Nun wird er
gegen ſeine Frau gleichguͤltig; er wird bey dem
taͤglichen Umgange froſtig gegen ſie. Sie hat
nicht Verſtand genug, ſeine Liebe ſich zu erhalten.
Eine Krankheit ſtuͤrzt mit dem Reſte der Schoͤn-
heit, alle Neigung uͤber einen Haufen. Nun iſt
ſie ihm ganz unertraͤglich. Er ſeufzet noch, der
ungluͤckliche Seladon; aber er ſeufzet nicht mehr
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traurige Verwandlung; uͤber den Himmel ſeufzet

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[209/0231] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. und dieſe Einige ſind beneidenswuͤrdig: Aber un- ſere Mutterſprache iſt viel reicher, als daß ſie ſich auf eine ſo enge Bedeutung einſchraͤnken ſollte. Wenn ich ſage: Jch habe Neigung gegen dieſes Frauenzimmer; ſo heißt das ſo viel: Die Augen dieſes Maͤdchens gefallen mir, ſie hat einen ſchoͤ- nen Mund, ihre runde Hand reizt auch einen Phi- loſophen zum Kuſſe, ſie iſt wohl gebaut, ihr Gang iſt edel, ihr Fuß engliſch, ihr Verſtand ‒ ‒ ‒ Nein, das war falſch, der Verſtand gehoͤrt nicht dazu; genug, das Maͤdchen iſt ſchoͤn, ich liebe ſie, ich bete ſie an, ich ſeufze, ich ſeufze, bis ſie mich er- hoͤrt. Und wenn dieſe Schoͤne ſo fein iſt, daß ſie die Seufzer dieſes ſchmachtenden Seladons nicht allzu zeitig erhoͤrt, ſo hat ſie das gewuͤnſchte Gluͤck, ſeine Frau zu werden. Er hat ſie aus Neigung geliebt, und aus Neigung geheirathet. Noch einige Zeit liebt er auf eben dieſe Art bruͤnſtig. Er wird ihre reizenden Augen, ihren ſchoͤnen Mund gewohnt; er liebt ſie noch, ohne ſie bruͤn- ſtig zu lieben. Das Feuer der Augen verliert ſich; die Liebe zu ihr wird matt. Nun wird er gegen ſeine Frau gleichguͤltig; er wird bey dem taͤglichen Umgange froſtig gegen ſie. Sie hat nicht Verſtand genug, ſeine Liebe ſich zu erhalten. Eine Krankheit ſtuͤrzt mit dem Reſte der Schoͤn- heit, alle Neigung uͤber einen Haufen. Nun iſt ſie ihm ganz unertraͤglich. Er ſeufzet noch, der ungluͤckliche Seladon; aber er ſeufzet nicht mehr fuͤr ſeine Schoͤne. Er ſeufzet uͤber ſich, uͤber die traurige Verwandlung; uͤber den Himmel ſeufzet er, O

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/231>, abgerufen am 06.05.2024.