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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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und -- die jungen Herzen fühlen Gedichte, wie sie
noch nie dem Papier anvertraut werden konnten. Ich,
der alte Mann, welch' ein Dichter, welch' ein Maler
müßte ich sein, wenn ich alle diese frischen, blühenden
Gestalten, die da heute an diesem einsamen Abend
wieder um mich her auftauchen, mit ihrem fröhlichen
Lachen, ihren kleinen Sorgen und Freuden, ihren klei-
nen Sünden und Tugenden, mit ihren verstohlenen
Seufzern, noch verstohleneren Zärtlichkeiten und ihren
lauten Neckereien auf die Blätter dieser Chronik fest-
bannen wollte! Wie abgeblaßt und schal sieht Alles aus,
was ich bis jetzt zusammengetragen und niedergeschrieben
habe; wie farbenbunt und frisch erlebte es sich!


Aber wo war auf einmal der Mond geblieben? Die
dunkeln Wolkenmassen, die im Süden lange genug ge-
droht hatten, hatten sich unbemerkt herangewälzt; es
grollte und murrte in der Ferne und schwere warme Re-
gentropfen schlugen vereinzelt in die lenes susurros
sub noctem,
in das leise Geflüster im Schatten der
Nacht. -- --

Kennt Ihr das "Rette sich wer kann!" bei einem
plötzlich hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt?
Alle Gruppen lösen sich; -- Schürzen werden über den
Kopf, Taschentücher über die Hüte gebunden; hier flüch-

und — die jungen Herzen fühlen Gedichte, wie ſie
noch nie dem Papier anvertraut werden konnten. Ich,
der alte Mann, welch’ ein Dichter, welch’ ein Maler
müßte ich ſein, wenn ich alle dieſe friſchen, blühenden
Geſtalten, die da heute an dieſem einſamen Abend
wieder um mich her auftauchen, mit ihrem fröhlichen
Lachen, ihren kleinen Sorgen und Freuden, ihren klei-
nen Sünden und Tugenden, mit ihren verſtohlenen
Seufzern, noch verſtohleneren Zärtlichkeiten und ihren
lauten Neckereien auf die Blätter dieſer Chronik feſt-
bannen wollte! Wie abgeblaßt und ſchal ſieht Alles aus,
was ich bis jetzt zuſammengetragen und niedergeſchrieben
habe; wie farbenbunt und friſch erlebte es ſich!


Aber wo war auf einmal der Mond geblieben? Die
dunkeln Wolkenmaſſen, die im Süden lange genug ge-
droht hatten, hatten ſich unbemerkt herangewälzt; es
grollte und murrte in der Ferne und ſchwere warme Re-
gentropfen ſchlugen vereinzelt in die lenes susurros
sub noctem,
in das leiſe Geflüſter im Schatten der
Nacht. — —

Kennt Ihr das „Rette ſich wer kann!“ bei einem
plötzlich hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt?
Alle Gruppen löſen ſich; — Schürzen werden über den
Kopf, Taſchentücher über die Hüte gebunden; hier flüch-

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[244/0254] und — die jungen Herzen fühlen Gedichte, wie ſie noch nie dem Papier anvertraut werden konnten. Ich, der alte Mann, welch’ ein Dichter, welch’ ein Maler müßte ich ſein, wenn ich alle dieſe friſchen, blühenden Geſtalten, die da heute an dieſem einſamen Abend wieder um mich her auftauchen, mit ihrem fröhlichen Lachen, ihren kleinen Sorgen und Freuden, ihren klei- nen Sünden und Tugenden, mit ihren verſtohlenen Seufzern, noch verſtohleneren Zärtlichkeiten und ihren lauten Neckereien auf die Blätter dieſer Chronik feſt- bannen wollte! Wie abgeblaßt und ſchal ſieht Alles aus, was ich bis jetzt zuſammengetragen und niedergeſchrieben habe; wie farbenbunt und friſch erlebte es ſich! Aber wo war auf einmal der Mond geblieben? Die dunkeln Wolkenmaſſen, die im Süden lange genug ge- droht hatten, hatten ſich unbemerkt herangewälzt; es grollte und murrte in der Ferne und ſchwere warme Re- gentropfen ſchlugen vereinzelt in die lenes susurros sub noctem, in das leiſe Geflüſter im Schatten der Nacht. — — Kennt Ihr das „Rette ſich wer kann!“ bei einem plötzlich hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt? Alle Gruppen löſen ſich; — Schürzen werden über den Kopf, Taſchentücher über die Hüte gebunden; hier flüch-

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/254>, abgerufen am 24.11.2024.