Strahl mit seinen Bewohnern schräg über unsere Wand fort und glitt auf die Fenster unserer Nachbarn zu. Halb zehn Uhr hörte ich's schlagen, als der Reigen vor dem Fenster der armen Frau Nudhart, die mit ihrem kranken Kind da wohnt, ankam, und zitternd über einen knospenden Rosenbusch in das kleine Zimmer glitt. Leise singend schwebten die Geisterchen des Lichts, und ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten sich um den Schatten des Rosenbusches auf den Boden, küßten das bleiche Kindergesicht auf dem Bettchen und die ebenso bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, sorgen- vollen Mutter. Wir bringen Hoffnung, wir bringen Genesung, wir bringen Leben! flüsterten die Geister. Das kranke Kind legte seine magern Händchen lächelnd in den zitternden Strahl auf seinem Kissen. Wir brin- gen Hoffnung, Genesung, wir bringen Leben, sang ich mit im Chor und fast widerstrebend folgte ich dem zu- rückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte ich zurück in's Zimmer werfen, und im nächsten Augen- blick schwebte ich schon wieder in der Gasse. Die Tante aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen sein, denn plötzlich mischten sich die Töne ihres Flügels in den Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor seinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir
Strahl mit ſeinen Bewohnern ſchräg über unſere Wand fort und glitt auf die Fenſter unſerer Nachbarn zu. Halb zehn Uhr hörte ich’s ſchlagen, als der Reigen vor dem Fenſter der armen Frau Nudhart, die mit ihrem kranken Kind da wohnt, ankam, und zitternd über einen knospenden Roſenbuſch in das kleine Zimmer glitt. Leiſe ſingend ſchwebten die Geiſterchen des Lichts, und ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten ſich um den Schatten des Roſenbuſches auf den Boden, küßten das bleiche Kindergeſicht auf dem Bettchen und die ebenſo bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, ſorgen- vollen Mutter. Wir bringen Hoffnung, wir bringen Geneſung, wir bringen Leben! flüſterten die Geiſter. Das kranke Kind legte ſeine magern Händchen lächelnd in den zitternden Strahl auf ſeinem Kiſſen. Wir brin- gen Hoffnung, Geneſung, wir bringen Leben, ſang ich mit im Chor und faſt widerſtrebend folgte ich dem zu- rückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte ich zurück in’s Zimmer werfen, und im nächſten Augen- blick ſchwebte ich ſchon wieder in der Gaſſe. Die Tante aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen ſein, denn plötzlich miſchten ſich die Töne ihres Flügels in den Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor ſeinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0249"n="239"/>
Strahl mit ſeinen Bewohnern ſchräg über unſere Wand<lb/>
fort und glitt auf die Fenſter unſerer Nachbarn zu.<lb/>
Halb zehn Uhr hörte ich’s ſchlagen, als der Reigen vor<lb/>
dem Fenſter der armen Frau Nudhart, die mit ihrem<lb/>
kranken Kind da wohnt, ankam, und zitternd über einen<lb/>
knospenden Roſenbuſch in das kleine Zimmer glitt.<lb/>
Leiſe ſingend ſchwebten die Geiſterchen des Lichts, und<lb/>
ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten ſich um<lb/>
den Schatten des Roſenbuſches auf den Boden, küßten<lb/>
das bleiche Kindergeſicht auf dem Bettchen und die ebenſo<lb/>
bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, ſorgen-<lb/>
vollen Mutter. Wir bringen Hoffnung, wir bringen<lb/>
Geneſung, wir bringen Leben! flüſterten die Geiſter.<lb/>
Das kranke Kind legte ſeine magern Händchen lächelnd<lb/>
in den zitternden Strahl auf ſeinem Kiſſen. Wir brin-<lb/>
gen Hoffnung, Geneſung, wir bringen Leben, ſang ich<lb/>
mit im Chor und faſt widerſtrebend folgte ich dem zu-<lb/>
rückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte<lb/>
ich zurück in’s Zimmer werfen, und im nächſten Augen-<lb/>
blick ſchwebte ich ſchon wieder in der Gaſſe. Die Tante<lb/>
aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen ſein, denn<lb/>
plötzlich miſchten ſich die Töne ihres Flügels in den<lb/>
Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor<lb/>ſeinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber<lb/>
mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir<lb/></p></div></body></text></TEI>
[239/0249]
Strahl mit ſeinen Bewohnern ſchräg über unſere Wand
fort und glitt auf die Fenſter unſerer Nachbarn zu.
Halb zehn Uhr hörte ich’s ſchlagen, als der Reigen vor
dem Fenſter der armen Frau Nudhart, die mit ihrem
kranken Kind da wohnt, ankam, und zitternd über einen
knospenden Roſenbuſch in das kleine Zimmer glitt.
Leiſe ſingend ſchwebten die Geiſterchen des Lichts, und
ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten ſich um
den Schatten des Roſenbuſches auf den Boden, küßten
das bleiche Kindergeſicht auf dem Bettchen und die ebenſo
bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, ſorgen-
vollen Mutter. Wir bringen Hoffnung, wir bringen
Geneſung, wir bringen Leben! flüſterten die Geiſter.
Das kranke Kind legte ſeine magern Händchen lächelnd
in den zitternden Strahl auf ſeinem Kiſſen. Wir brin-
gen Hoffnung, Geneſung, wir bringen Leben, ſang ich
mit im Chor und faſt widerſtrebend folgte ich dem zu-
rückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte
ich zurück in’s Zimmer werfen, und im nächſten Augen-
blick ſchwebte ich ſchon wieder in der Gaſſe. Die Tante
aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen ſein, denn
plötzlich miſchten ſich die Töne ihres Flügels in den
Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor
ſeinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber
mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/249>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.