Winters verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen. -- -- --
Ich bin ein einsamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechselnden, ewig neuen Bilder dieses gro- ßen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verschwim- men sie, mehr und mehr fließen sie in einander. Ich bin mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem Uebergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle, traum- und geistervolle Nacht über Alles, Gutes und Böses, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es ist die Zeit, wo die Erinne- rung an die Stelle der Hoffnung tritt.
Schaue ich auf aus meinen Träumen, so sehe ich zwar dasselbe Lächeln, dasselbe Schmerzenszucken auf den Menschengesichtern um mich her, wie vor langen blühen- deren Jahren, aber wenn auch Freude und Leid diesel- ben geblieben sind auf der alten Mutter Erde: -- die Gesichter selbst sind mir fremd, -- ich bin allein! -- Allein, -- und doch nicht allein. Aus der dämmrigen Nacht des Vergessens taucht es auf und klingt es; Ge- stalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm,
Winters verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlaſſen. — — —
Ich bin ein einſamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechſelnden, ewig neuen Bilder dieſes gro- ßen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verſchwim- men ſie, mehr und mehr fließen ſie in einander. Ich bin mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem Uebergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebniſſe des Tages ſich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle, traum- und geiſtervolle Nacht über Alles, Gutes und Böſes, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es iſt die Zeit, wo die Erinne- rung an die Stelle der Hoffnung tritt.
Schaue ich auf aus meinen Träumen, ſo ſehe ich zwar daſſelbe Lächeln, daſſelbe Schmerzenszucken auf den Menſchengeſichtern um mich her, wie vor langen blühen- deren Jahren, aber wenn auch Freude und Leid dieſel- ben geblieben ſind auf der alten Mutter Erde: — die Geſichter ſelbſt ſind mir fremd, — ich bin allein! — Allein, — und doch nicht allein. Aus der dämmrigen Nacht des Vergeſſens taucht es auf und klingt es; Ge- ſtalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm,
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Winters verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur
zu hinterlaſſen. — — —
Ich bin ein einſamer alter Mann geworden! Die
bunten, ewig wechſelnden, ewig neuen Bilder dieſes gro-
ßen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten
Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verſchwim-
men ſie, mehr und mehr fließen ſie in einander. Ich bin
mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem
Uebergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebniſſe des
Tages ſich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen,
wo aber bereits die dunkle, traum- und geiſtervolle Nacht
über Alles, Gutes und Böſes, ihren Schleier breitet.
Ich bin alt und müde; es iſt die Zeit, wo die Erinne-
rung an die Stelle der Hoffnung tritt.
Schaue ich auf aus meinen Träumen, ſo ſehe ich
zwar daſſelbe Lächeln, daſſelbe Schmerzenszucken auf den
Menſchengeſichtern um mich her, wie vor langen blühen-
deren Jahren, aber wenn auch Freude und Leid dieſel-
ben geblieben ſind auf der alten Mutter Erde: — die
Geſichter ſelbſt ſind mir fremd, — ich bin allein! —
Allein, — und doch nicht allein. Aus der dämmrigen
Nacht des Vergeſſens taucht es auf und klingt es; Ge-
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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/16>, abgerufen am 05.07.2024.
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