Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.Jahre alt ist mein Kind jetzt in den Blättern der Weine nicht mehr, Lischen, sieh', ich will Dich an Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtasche, Lischen Jahre alt iſt mein Kind jetzt in den Blättern der Weine nicht mehr, Lischen, ſieh’, ich will Dich an Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtaſche, Lischen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0104" n="94"/> Jahre alt iſt mein Kind jetzt in den Blättern der<lb/> Chronik. Das runde Geſichtchen zieht ſich ſchon mehr<lb/> und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an<lb/> der Wand ſo lieblich macht; aus Lischens Kinderſtimme<lb/> klingt mir nun oftmals, — wenn ſie ſich wundert, ſich<lb/> freut oder klagt — ein Ton entgegen, der mich faſt er-<lb/> ſchreckt auffahren läßt. Es iſt derſelbe Ausruf, den<lb/><hi rendition="#g">ſie</hi> an ſich hatte! Wer hat ihn Dich gelehrt, kleines<lb/> Herz? Dieſen Ton, den ich für ewig verklungen hielt<lb/> und welcher jetzt nach ſo langen Jahren wieder friſch<lb/> und lebendig wird? —</p><lb/> <p>Weine nicht mehr, Lischen, ſieh’, ich will Dich an<lb/> ernſtere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da<lb/> wollen wir uns hinſetzen unter die blühenden Roſen-<lb/> büſche und denken, daß die Welt ſo groß, ſo unendlich<lb/> groß ſei — und doch Nichts verloren gehe! Da wollen<lb/> wir auch dem todten Vogel ſein kleines Grab graben<lb/> und uns vorſtellen, daß im nächſten Frühlinge aus ſei-<lb/> nem kleinen Leibe eine hübſche, goldgelbe Blume auf-<lb/> ſprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmet-<lb/> terlings und des großen, ewigen Gottes! —</p><lb/> <p>Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtaſche, Lischen<lb/> (wenn du es heute vielleicht auch verſchenken wirſt) —<lb/> gieb mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder!<lb/> Du kannſt ihn auch fragen, ob er nicht morgen am<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [94/0104]
Jahre alt iſt mein Kind jetzt in den Blättern der
Chronik. Das runde Geſichtchen zieht ſich ſchon mehr
und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an
der Wand ſo lieblich macht; aus Lischens Kinderſtimme
klingt mir nun oftmals, — wenn ſie ſich wundert, ſich
freut oder klagt — ein Ton entgegen, der mich faſt er-
ſchreckt auffahren läßt. Es iſt derſelbe Ausruf, den
ſie an ſich hatte! Wer hat ihn Dich gelehrt, kleines
Herz? Dieſen Ton, den ich für ewig verklungen hielt
und welcher jetzt nach ſo langen Jahren wieder friſch
und lebendig wird? —
Weine nicht mehr, Lischen, ſieh’, ich will Dich an
ernſtere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da
wollen wir uns hinſetzen unter die blühenden Roſen-
büſche und denken, daß die Welt ſo groß, ſo unendlich
groß ſei — und doch Nichts verloren gehe! Da wollen
wir auch dem todten Vogel ſein kleines Grab graben
und uns vorſtellen, daß im nächſten Frühlinge aus ſei-
nem kleinen Leibe eine hübſche, goldgelbe Blume auf-
ſprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmet-
terlings und des großen, ewigen Gottes! —
Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtaſche, Lischen
(wenn du es heute vielleicht auch verſchenken wirſt) —
gieb mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder!
Du kannſt ihn auch fragen, ob er nicht morgen am
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