Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.Am 11. Januar. -- Wie das Epheu aus dem Ulfeldener Walde höher und Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate, So fand ihn Elise und schrie auf, nahm ihn in ihre Leg' ihn nieder, Deinen kleinen Freund; auch Dir Am 11. Januar. — Wie das Epheu aus dem Ulfeldener Walde höher und Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate, So fand ihn Eliſe und ſchrie auf, nahm ihn in ihre Leg’ ihn nieder, Deinen kleinen Freund; auch Dir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0103" n="93"/> </div> <div n="1"> <dateline> <hi rendition="#right">Am 11. Januar. —</hi> </dateline><lb/> <p>Wie das Epheu aus dem Ulfeldener Walde höher und<lb/> höher hinaufſteigt an der Wand des Fenſters, geküßt<lb/> von der warmen Sonne, getränkt von kleinen, ſorgenden<lb/> Händen, welche alle verwelkten, gelben Blätter abpflücken,<lb/> daß die Pflanze immer friſch und jung daſtehe.</p><lb/> <p>Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate,<lb/> aus Monaten Jahre, und das junge Menſchenkind wächſt<lb/> und entfaltet ſich ſchöner und blühender als die köſtlichſte,<lb/> wunderſamſte Pflanze. Die alte Martha wird immer<lb/> älter und gebückter, und graues Haar miſcht ſich mehr<lb/> und mehr unter mein braunes. Zum erſten Mal iſt der<lb/> Tod an mein Kind herangetreten. Es hat über der<lb/> erſten Leiche geweint. Der hübſche, goldgelbe Canarien-<lb/> vogel, der ſo zahm und lieb war, lag eines Morgens<lb/> kalt und erſtarrt auf dem Boden ſeines kleinen Hauſes.</p><lb/> <p>So fand ihn Eliſe und ſchrie auf, nahm ihn in ihre<lb/> Hände, hauchte ihn an und ſuchte ihn zu erwärmen —<lb/> ach armes Kind: die Todten kommen nicht wieder! —</p><lb/> <p>Leg’ ihn nieder, Deinen kleinen Freund; auch Dir<lb/> jungem Weſen iſt es jetzt ſchon nicht mehr vergönnt zu<lb/> klagen und zu trauern, wie Du wohl möchteſt; auch Dich<lb/> hat das Leben jetzt ſchon erfaßt und in ſeine Wirbel ge-<lb/> zogen; — gehe hin mit Deinem gedrückten, kleinen Her-<lb/> zen — daß Du die Schule nicht verſäumſt! — Eilf<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [93/0103]
Am 11. Januar. —
Wie das Epheu aus dem Ulfeldener Walde höher und
höher hinaufſteigt an der Wand des Fenſters, geküßt
von der warmen Sonne, getränkt von kleinen, ſorgenden
Händen, welche alle verwelkten, gelben Blätter abpflücken,
daß die Pflanze immer friſch und jung daſtehe.
Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate,
aus Monaten Jahre, und das junge Menſchenkind wächſt
und entfaltet ſich ſchöner und blühender als die köſtlichſte,
wunderſamſte Pflanze. Die alte Martha wird immer
älter und gebückter, und graues Haar miſcht ſich mehr
und mehr unter mein braunes. Zum erſten Mal iſt der
Tod an mein Kind herangetreten. Es hat über der
erſten Leiche geweint. Der hübſche, goldgelbe Canarien-
vogel, der ſo zahm und lieb war, lag eines Morgens
kalt und erſtarrt auf dem Boden ſeines kleinen Hauſes.
So fand ihn Eliſe und ſchrie auf, nahm ihn in ihre
Hände, hauchte ihn an und ſuchte ihn zu erwärmen —
ach armes Kind: die Todten kommen nicht wieder! —
Leg’ ihn nieder, Deinen kleinen Freund; auch Dir
jungem Weſen iſt es jetzt ſchon nicht mehr vergönnt zu
klagen und zu trauern, wie Du wohl möchteſt; auch Dich
hat das Leben jetzt ſchon erfaßt und in ſeine Wirbel ge-
zogen; — gehe hin mit Deinem gedrückten, kleinen Her-
zen — daß Du die Schule nicht verſäumſt! — Eilf
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