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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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Treppen, die zu der alten Frau hinaufführten, dieser
Vers, daß die süße Stimme, die das Lied uns in
dem vornehmen Salon des Vorderhauses so oft ge¬
sungen hatte, mir plötzlich wieder in den Sinn kam?
Es waren doch eigentlich nur wenige Jahre her,
daß wir dort in dem Zauberwalde Brozeliand zu¬
sammensaßen und über der Berliner Schneider¬
werkstatt aller romantischen Wunder voll, proven¬
calische Minnesänger, altfranzösische Chroniken und
hugenottische Streitschriften und Liederbücher durch¬
blätterten, und nun schien mir nichts davon übrig
zu sein als dieser Ton, dieser Vers! Und schauerlich
merkwürdig kam mir dazu eine spätere Winternacht
in das Gedächtniß zurück und ein anderer Vers, aber
nicht aus einem französischen Volksliede, sondern
aus einem deutschen Klassiker. Im stillen, von
seinem Eigenthum an der Erde sich leerenden Vater¬
hause im Vogelsang murmelte ihn Velten Andres
bei seinem Vernichtungs- und Befreiungswerk vor
sich hin:

Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.

Dorotheenstraße Numero 0 -- Hintergebäude --
Frau Fechtmeisterin Feucht -- Studiosus Valentin
Andres! Ich zog im dritten Stockwerk wie ein eben

W. Raabe. Die Akten des Vogelsangs. 19

Treppen, die zu der alten Frau hinaufführten, dieſer
Vers, daß die ſüße Stimme, die das Lied uns in
dem vornehmen Salon des Vorderhauſes ſo oft ge¬
ſungen hatte, mir plötzlich wieder in den Sinn kam?
Es waren doch eigentlich nur wenige Jahre her,
daß wir dort in dem Zauberwalde Brozeliand zu¬
ſammenſaßen und über der Berliner Schneider¬
werkſtatt aller romantiſchen Wunder voll, proven¬
çaliſche Minneſänger, altfranzöſiſche Chroniken und
hugenottiſche Streitſchriften und Liederbücher durch¬
blätterten, und nun ſchien mir nichts davon übrig
zu ſein als dieſer Ton, dieſer Vers! Und ſchauerlich
merkwürdig kam mir dazu eine ſpätere Winternacht
in das Gedächtniß zurück und ein anderer Vers, aber
nicht aus einem franzöſiſchen Volksliede, ſondern
aus einem deutſchen Klaſſiker. Im ſtillen, von
ſeinem Eigenthum an der Erde ſich leerenden Vater¬
hauſe im Vogelſang murmelte ihn Velten Andres
bei ſeinem Vernichtungs- und Befreiungswerk vor
ſich hin:

Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Iſt ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.

Dorotheenſtraße Numero 0 — Hintergebäude —
Frau Fechtmeiſterin Feucht — Studioſus Valentin
Andres! Ich zog im dritten Stockwerk wie ein eben

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[289/0299] Treppen, die zu der alten Frau hinaufführten, dieſer Vers, daß die ſüße Stimme, die das Lied uns in dem vornehmen Salon des Vorderhauſes ſo oft ge¬ ſungen hatte, mir plötzlich wieder in den Sinn kam? Es waren doch eigentlich nur wenige Jahre her, daß wir dort in dem Zauberwalde Brozeliand zu¬ ſammenſaßen und über der Berliner Schneider¬ werkſtatt aller romantiſchen Wunder voll, proven¬ çaliſche Minneſänger, altfranzöſiſche Chroniken und hugenottiſche Streitſchriften und Liederbücher durch¬ blätterten, und nun ſchien mir nichts davon übrig zu ſein als dieſer Ton, dieſer Vers! Und ſchauerlich merkwürdig kam mir dazu eine ſpätere Winternacht in das Gedächtniß zurück und ein anderer Vers, aber nicht aus einem franzöſiſchen Volksliede, ſondern aus einem deutſchen Klaſſiker. Im ſtillen, von ſeinem Eigenthum an der Erde ſich leerenden Vater¬ hauſe im Vogelſang murmelte ihn Velten Andres bei ſeinem Vernichtungs- und Befreiungswerk vor ſich hin: Sei gefühllos! Ein leichtbewegtes Herz Iſt ein elend Gut Auf der wankenden Erde. Dorotheenſtraße Numero 0 — Hintergebäude — Frau Fechtmeiſterin Feucht — Studioſus Valentin Andres! Ich zog im dritten Stockwerk wie ein eben W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 19

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/299>, abgerufen am 22.11.2024.