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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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Tintenfaß tauche und aus seiner Mutter Mundtasse
trinke, und auf welcher Kommode, im Trödel erhandelt,
die Bronzeuhr stehe, auf die man nie rechnen konnte,
wenn man einmal im Hause Andres die richtige
Tageszeit zu wissen wünschte, und die doch mit ihrem
zirpenden Glockenschlag so viele gute Stunden ein-
und ausgeläutet hatte. Wir kamen auch hierüber
weg. Zerstören ist leichter als aufbauen: ein altes
wahres Wort, das mein armer Freund seinerseits
ebenfalls so in die Praxis übersetzte, daß, wenn ich
zu Weib und Kind heimgekommen war, meine Frau
mitten in der Nacht oder gegen Morgen sich auf
dem Ellbogen aufrichtete, mir über die Stirn strich
und rief:

"Mann, nun schläfst Du ja wieder nicht! Großer
Gott, ist er denn nicht bald fertig? Ich halte Dies
nicht länger aus und Du auch nicht!"

"Beruhige Dich, mein Kind --"

"Wie kann ich mich beruhigen, wenn solch ein
Unhold Dich mir unter den Händen austauscht und
allmählich zu einem Anderen macht? Oder ist das
etwa nicht so? Glaubst Du, ich merkte es nicht, wie
Dir jetzt von Tag zu Tag mehr so Manches über¬
drüssig, einerlei und zur Last wird, was doch zum
Leben gehört? O, mein bester Karl, wenn wir,
Ferdy und ich, Dir auch einmal zur Last würden, wie

Tintenfaß tauche und aus ſeiner Mutter Mundtaſſe
trinke, und auf welcher Kommode, im Trödel erhandelt,
die Bronzeuhr ſtehe, auf die man nie rechnen konnte,
wenn man einmal im Hauſe Andres die richtige
Tageszeit zu wiſſen wünſchte, und die doch mit ihrem
zirpenden Glockenſchlag ſo viele gute Stunden ein-
und ausgeläutet hatte. Wir kamen auch hierüber
weg. Zerſtören iſt leichter als aufbauen: ein altes
wahres Wort, das mein armer Freund ſeinerſeits
ebenfalls ſo in die Praxis überſetzte, daß, wenn ich
zu Weib und Kind heimgekommen war, meine Frau
mitten in der Nacht oder gegen Morgen ſich auf
dem Ellbogen aufrichtete, mir über die Stirn ſtrich
und rief:

„Mann, nun ſchläfſt Du ja wieder nicht! Großer
Gott, iſt er denn nicht bald fertig? Ich halte Dies
nicht länger aus und Du auch nicht!“

„Beruhige Dich, mein Kind —“

„Wie kann ich mich beruhigen, wenn ſolch ein
Unhold Dich mir unter den Händen austauſcht und
allmählich zu einem Anderen macht? Oder iſt das
etwa nicht ſo? Glaubſt Du, ich merkte es nicht, wie
Dir jetzt von Tag zu Tag mehr ſo Manches über¬
drüſſig, einerlei und zur Laſt wird, was doch zum
Leben gehört? O, mein beſter Karl, wenn wir,
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[263/0273] Tintenfaß tauche und aus ſeiner Mutter Mundtaſſe trinke, und auf welcher Kommode, im Trödel erhandelt, die Bronzeuhr ſtehe, auf die man nie rechnen konnte, wenn man einmal im Hauſe Andres die richtige Tageszeit zu wiſſen wünſchte, und die doch mit ihrem zirpenden Glockenſchlag ſo viele gute Stunden ein- und ausgeläutet hatte. Wir kamen auch hierüber weg. Zerſtören iſt leichter als aufbauen: ein altes wahres Wort, das mein armer Freund ſeinerſeits ebenfalls ſo in die Praxis überſetzte, daß, wenn ich zu Weib und Kind heimgekommen war, meine Frau mitten in der Nacht oder gegen Morgen ſich auf dem Ellbogen aufrichtete, mir über die Stirn ſtrich und rief: „Mann, nun ſchläfſt Du ja wieder nicht! Großer Gott, iſt er denn nicht bald fertig? Ich halte Dies nicht länger aus und Du auch nicht!“ „Beruhige Dich, mein Kind —“ „Wie kann ich mich beruhigen, wenn ſolch ein Unhold Dich mir unter den Händen austauſcht und allmählich zu einem Anderen macht? Oder iſt das etwa nicht ſo? Glaubſt Du, ich merkte es nicht, wie Dir jetzt von Tag zu Tag mehr ſo Manches über¬ drüſſig, einerlei und zur Laſt wird, was doch zum Leben gehört? O, mein beſter Karl, wenn wir, Ferdy und ich, Dir auch einmal zur Laſt würden, wie

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/273>, abgerufen am 22.11.2024.