Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn Du
Deinen Freund nicht lassen willst, nicht lassen kannst!
Er hat ja freilich keine Familie wie Du; aber ich
habe doch noch erst die letzte Nacht geträumt, auch
Du habest mich mit unserm Jungen -- ich meine
unsere letzte Photographie -- verbrannt wie er die
Bilder seiner Eltern und seiner als ganz kleines Kind
gestorbenen Schwester! O bitte, da nimm uns,
Ferdy und mich, doch lieber jetzt gleich mit und
schieb uns in euren Ofen in Deinem Vogelsang!"

Worin lag nun der Zauber, der mich selbst
solche herzzerreißende Klagelaute überhören ließ, mich
gegen das einstimmende Winseln meines Erstgeborenen
taub machte und mich jeden Tag nach der alten
Heimstätte trieb, die jetzt zu einer Stätte der Ver¬
nichtung geworden war?

Wahrlich nicht ein unbewegliches, unbewegtes
Herz, sondern ganz das Gegentheil!

Wohl selten ist je einem Menschen die Gelegen¬
heit geboten worden, seine "besten Jahre" in die un¬
ruhvolle Gegenwart so zurückzurufen, wie mir in
Velten Andres' Krematorium. Wie wir im Vogel¬
sang in der Nachbarschaft trotz Allem doch wie eine
Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal
im reichsten Maaße und konnte meine Lebensakten in
wünschenswerthester Weise dadurch vervollständigen.

Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn Du
Deinen Freund nicht laſſen willſt, nicht laſſen kannſt!
Er hat ja freilich keine Familie wie Du; aber ich
habe doch noch erſt die letzte Nacht geträumt, auch
Du habeſt mich mit unſerm Jungen — ich meine
unſere letzte Photographie — verbrannt wie er die
Bilder ſeiner Eltern und ſeiner als ganz kleines Kind
geſtorbenen Schweſter! O bitte, da nimm uns,
Ferdy und mich, doch lieber jetzt gleich mit und
ſchieb uns in euren Ofen in Deinem Vogelſang!“

Worin lag nun der Zauber, der mich ſelbſt
ſolche herzzerreißende Klagelaute überhören ließ, mich
gegen das einſtimmende Winſeln meines Erſtgeborenen
taub machte und mich jeden Tag nach der alten
Heimſtätte trieb, die jetzt zu einer Stätte der Ver¬
nichtung geworden war?

Wahrlich nicht ein unbewegliches, unbewegtes
Herz, ſondern ganz das Gegentheil!

Wohl ſelten iſt je einem Menſchen die Gelegen¬
heit geboten worden, ſeine „beſten Jahre“ in die un¬
ruhvolle Gegenwart ſo zurückzurufen, wie mir in
Velten Andres' Krematorium. Wie wir im Vogel¬
ſang in der Nachbarſchaft trotz Allem doch wie eine
Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal
im reichſten Maaße und konnte meine Lebensakten in
wünſchenswertheſter Weiſe dadurch vervollſtändigen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0270" n="260"/>
Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn Du<lb/>
Deinen Freund nicht la&#x017F;&#x017F;en will&#x017F;t, nicht la&#x017F;&#x017F;en kann&#x017F;t!<lb/>
Er hat ja freilich keine Familie wie Du; aber ich<lb/>
habe doch noch er&#x017F;t die letzte Nacht geträumt, auch<lb/>
Du habe&#x017F;t mich mit un&#x017F;erm Jungen &#x2014; ich meine<lb/>
un&#x017F;ere letzte Photographie &#x2014; verbrannt wie er die<lb/>
Bilder &#x017F;einer Eltern und &#x017F;einer als ganz kleines Kind<lb/>
ge&#x017F;torbenen Schwe&#x017F;ter! O bitte, da nimm uns,<lb/>
Ferdy und mich, doch lieber jetzt gleich mit und<lb/>
&#x017F;chieb uns in euren Ofen in Deinem Vogel&#x017F;ang!&#x201C;</p><lb/>
      <p>Worin lag nun der Zauber, der mich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
&#x017F;olche herzzerreißende Klagelaute überhören ließ, mich<lb/>
gegen das ein&#x017F;timmende Win&#x017F;eln meines Er&#x017F;tgeborenen<lb/>
taub machte und mich jeden Tag nach der alten<lb/>
Heim&#x017F;tätte trieb, die jetzt zu einer Stätte der Ver¬<lb/>
nichtung geworden war?</p><lb/>
      <p>Wahrlich nicht ein unbewegliches, unbewegtes<lb/>
Herz, &#x017F;ondern ganz das Gegentheil!</p><lb/>
      <p>Wohl &#x017F;elten i&#x017F;t je einem Men&#x017F;chen die Gelegen¬<lb/>
heit geboten worden, &#x017F;eine &#x201E;be&#x017F;ten Jahre&#x201C; in die un¬<lb/>
ruhvolle Gegenwart &#x017F;o zurückzurufen, wie mir in<lb/>
Velten Andres' Krematorium. Wie wir im Vogel¬<lb/>
&#x017F;ang in der Nachbar&#x017F;chaft trotz Allem doch wie <hi rendition="#g">eine</hi><lb/>
Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal<lb/>
im reich&#x017F;ten Maaße und konnte meine Lebensakten in<lb/>
wün&#x017F;chenswerthe&#x017F;ter Wei&#x017F;e dadurch vervoll&#x017F;tändigen.<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0270] Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn Du Deinen Freund nicht laſſen willſt, nicht laſſen kannſt! Er hat ja freilich keine Familie wie Du; aber ich habe doch noch erſt die letzte Nacht geträumt, auch Du habeſt mich mit unſerm Jungen — ich meine unſere letzte Photographie — verbrannt wie er die Bilder ſeiner Eltern und ſeiner als ganz kleines Kind geſtorbenen Schweſter! O bitte, da nimm uns, Ferdy und mich, doch lieber jetzt gleich mit und ſchieb uns in euren Ofen in Deinem Vogelſang!“ Worin lag nun der Zauber, der mich ſelbſt ſolche herzzerreißende Klagelaute überhören ließ, mich gegen das einſtimmende Winſeln meines Erſtgeborenen taub machte und mich jeden Tag nach der alten Heimſtätte trieb, die jetzt zu einer Stätte der Ver¬ nichtung geworden war? Wahrlich nicht ein unbewegliches, unbewegtes Herz, ſondern ganz das Gegentheil! Wohl ſelten iſt je einem Menſchen die Gelegen¬ heit geboten worden, ſeine „beſten Jahre“ in die un¬ ruhvolle Gegenwart ſo zurückzurufen, wie mir in Velten Andres' Krematorium. Wie wir im Vogel¬ ſang in der Nachbarſchaft trotz Allem doch wie eine Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichſten Maaße und konnte meine Lebensakten in wünſchenswertheſter Weiſe dadurch vervollſtändigen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/270
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/270>, abgerufen am 05.05.2024.