Wochen mal wieder das Neue Testament von mir vorlesen, und da kamen wir denn naturgemäß auf die Situation im Evangelium Johannis. Es war auch Nacht, das heißt spät am Abend, und wir saßen bei der Lampe und waren beim dritten Kapitel: Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden; der kam zu Jesu bei der Nacht und sprach zu ihm -- ,Du, da hat wer geklopft,' sagte Mutter, und da war sie, unsere Kleine, und, stand scheu in der Stuben¬ thür und wagte sich nicht herein -- sie wagte sich nicht herein, gerade wie der spitzbärtige Jüd und Schrift¬ gelehrte. Ob der aber bei seinem Besuch so ge¬ schluchzt hat wie das Kind, kann ich nicht wissen, glaube es auch nicht. Sie hatten sie schon im Hotel de l'Europe in Purpur und köstliche Leinwand nach der neusten Modenzeitung ausstaffirt, aber die Haupt¬ sache war doch das naßgeweinte Taschentuch. Mit dem in den Händen that sie nun einen Sprung zu meiner Alten Sessel und lag vor ihr auf den Knieen und zog mit beiden Armen und Händen ihren Hals zu sich herunter und winselte: ,Tante Andres, ich kann nicht so von euch -- von Dir, Dir, Dir fortgehen. O bitte, bitte, verzeihe mir's, daß ich's nicht ändern kann, und daß es mir auch Vergnügen macht! Ich habe mich auch jetzt ja nur weggestohlen,
Wochen mal wieder das Neue Teſtament von mir vorleſen, und da kamen wir denn naturgemäß auf die Situation im Evangelium Johannis. Es war auch Nacht, das heißt ſpät am Abend, und wir ſaßen bei der Lampe und waren beim dritten Kapitel: Es war aber ein Menſch unter den Phariſäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberſter unter den Juden; der kam zu Jeſu bei der Nacht und ſprach zu ihm — ‚Du, da hat wer geklopft,‘ ſagte Mutter, und da war ſie, unſere Kleine, und, ſtand ſcheu in der Stuben¬ thür und wagte ſich nicht herein — ſie wagte ſich nicht herein, gerade wie der ſpitzbärtige Jüd und Schrift¬ gelehrte. Ob der aber bei ſeinem Beſuch ſo ge¬ ſchluchzt hat wie das Kind, kann ich nicht wiſſen, glaube es auch nicht. Sie hatten ſie ſchon im Hotel de l'Europe in Purpur und köſtliche Leinwand nach der neuſten Modenzeitung ausſtaffirt, aber die Haupt¬ ſache war doch das naßgeweinte Taſchentuch. Mit dem in den Händen that ſie nun einen Sprung zu meiner Alten Seſſel und lag vor ihr auf den Knieen und zog mit beiden Armen und Händen ihren Hals zu ſich herunter und winſelte: ‚Tante Andres, ich kann nicht ſo von euch — von Dir, Dir, Dir fortgehen. O bitte, bitte, verzeihe mir's, daß ich's nicht ändern kann, und daß es mir auch Vergnügen macht! Ich habe mich auch jetzt ja nur weggeſtohlen,
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Wochen mal wieder das Neue Teſtament von mir
vorleſen, und da kamen wir denn naturgemäß auf
die Situation im Evangelium Johannis. Es war
auch Nacht, das heißt ſpät am Abend, und wir ſaßen
bei der Lampe und waren beim dritten Kapitel:
Es war aber ein Menſch unter den Phariſäern, mit
Namen Nikodemus, ein Oberſter unter den Juden;
der kam zu Jeſu bei der Nacht und ſprach zu ihm —
‚Du, da hat wer geklopft,‘ ſagte Mutter, und da war
ſie, unſere Kleine, und, ſtand ſcheu in der Stuben¬
thür und wagte ſich nicht herein — ſie wagte ſich nicht
herein, gerade wie der ſpitzbärtige Jüd und Schrift¬
gelehrte. Ob der aber bei ſeinem Beſuch ſo ge¬
ſchluchzt hat wie das Kind, kann ich nicht wiſſen,
glaube es auch nicht. Sie hatten ſie ſchon im Hotel
de l'Europe in Purpur und köſtliche Leinwand nach
der neuſten Modenzeitung ausſtaffirt, aber die Haupt¬
ſache war doch das naßgeweinte Taſchentuch. Mit
dem in den Händen that ſie nun einen Sprung zu
meiner Alten Seſſel und lag vor ihr auf den Knieen
und zog mit beiden Armen und Händen ihren Hals
zu ſich herunter und winſelte: ‚Tante Andres, ich
kann nicht ſo von euch — von Dir, Dir, Dir
fortgehen. O bitte, bitte, verzeihe mir's, daß ich's
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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/117>, abgerufen am 22.11.2024.
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