den Gartenzaun, bricht auch nicht mehr unter der ersteren durch, sondern lehnt nur an ihnen: das schönste Mädchen nicht bloß der Vorstadt, sondern der ganzen Stadt, hochgewachsen, goldblonden Haars, doch dunkel von Augen und Augenbrauen. Die Nachbarn sagen, sie sei vorzeitig in die Höhe ge¬ schloddert, aber das ist eine dumme und mehrfach auch vom Neid der Konkurrentinnen eingegebene Redensart. Im Waldgebirge Leukos, im arkadischen Gebiete des Pan und auf dem thrakischen Hämus würde man anders von ihr gesprochen und sie jeden¬ falls unter die zwanzig amnisiadischen Nymphen ge¬ zählt haben, die sich Artemis, wie Kallimachus singt, von ihrem Vater Zeus als Begleiterinnen ausgebeten hatte.
Mein Freund Velten ging freilich noch weiter und setzte mich durch philologisch-mythologische Kennt¬ nisse über Verhältnisse in Erstaunen, von denen ich keine Ahnung aus der Schule mitgebracht hatte.
"Dieses Frauenzimmer," sagte er. "Guck sie Dir nur an, Mensch! Trägt sie nicht den von den Kyklopen geschmiedeten cydonischen Bogen der Diana selber? Und umklammert das prachtvolle Wurm nicht Tag und Nacht in ihrer Einbildung die Knie ihres Erzeugers mit der Bitte, ihr dreißig Städte und sämmtliche Gebirge der Erde zu schenken? Kalli¬
den Gartenzaun, bricht auch nicht mehr unter der erſteren durch, ſondern lehnt nur an ihnen: das ſchönſte Mädchen nicht bloß der Vorſtadt, ſondern der ganzen Stadt, hochgewachſen, goldblonden Haars, doch dunkel von Augen und Augenbrauen. Die Nachbarn ſagen, ſie ſei vorzeitig in die Höhe ge¬ ſchloddert, aber das iſt eine dumme und mehrfach auch vom Neid der Konkurrentinnen eingegebene Redensart. Im Waldgebirge Leukos, im arkadiſchen Gebiete des Pan und auf dem thrakiſchen Hämus würde man anders von ihr geſprochen und ſie jeden¬ falls unter die zwanzig amniſiadiſchen Nymphen ge¬ zählt haben, die ſich Artemis, wie Kallimachus ſingt, von ihrem Vater Zeus als Begleiterinnen ausgebeten hatte.
Mein Freund Velten ging freilich noch weiter und ſetzte mich durch philologiſch-mythologiſche Kennt¬ niſſe über Verhältniſſe in Erſtaunen, von denen ich keine Ahnung aus der Schule mitgebracht hatte.
„Dieſes Frauenzimmer,“ ſagte er. „Guck ſie Dir nur an, Menſch! Trägt ſie nicht den von den Kyklopen geſchmiedeten cydoniſchen Bogen der Diana ſelber? Und umklammert das prachtvolle Wurm nicht Tag und Nacht in ihrer Einbildung die Knie ihres Erzeugers mit der Bitte, ihr dreißig Städte und ſämmtliche Gebirge der Erde zu ſchenken? Kalli¬
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den Gartenzaun, bricht auch nicht mehr unter der
erſteren durch, ſondern lehnt nur an ihnen: das
ſchönſte Mädchen nicht bloß der Vorſtadt, ſondern
der ganzen Stadt, hochgewachſen, goldblonden Haars,
doch dunkel von Augen und Augenbrauen. Die
Nachbarn ſagen, ſie ſei vorzeitig in die Höhe ge¬
ſchloddert, aber das iſt eine dumme und mehrfach
auch vom Neid der Konkurrentinnen eingegebene
Redensart. Im Waldgebirge Leukos, im arkadiſchen
Gebiete des Pan und auf dem thrakiſchen Hämus
würde man anders von ihr geſprochen und ſie jeden¬
falls unter die zwanzig amniſiadiſchen Nymphen ge¬
zählt haben, die ſich Artemis, wie Kallimachus ſingt,
von ihrem Vater Zeus als Begleiterinnen ausgebeten
hatte.
Mein Freund Velten ging freilich noch weiter
und ſetzte mich durch philologiſch-mythologiſche Kennt¬
niſſe über Verhältniſſe in Erſtaunen, von denen ich
keine Ahnung aus der Schule mitgebracht hatte.
„Dieſes Frauenzimmer,“ ſagte er. „Guck ſie
Dir nur an, Menſch! Trägt ſie nicht den von den
Kyklopen geſchmiedeten cydoniſchen Bogen der Diana
ſelber? Und umklammert das prachtvolle Wurm
nicht Tag und Nacht in ihrer Einbildung die Knie
ihres Erzeugers mit der Bitte, ihr dreißig Städte
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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/100>, abgerufen am 23.11.2024.
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