Freylich blieb es jetzt nicht bloß beym Predi- gen und Schreiben über theoretische oder etwa bloß problematische Religionsfragen. Sondern nun- mehr zeigte sich selbst in den wesentlichsten Lehren der Religion, und zugleich in der ganzen Kirchen- verfassung, zwischen dem, was bisher obgewaltet hatte, und dem, was nun aufkam, ein solcher Unterschied, daß es nicht mehr möglich war, daß beide Theile einerley kirchliche Gemeinschaft ferner mit einander beybehalten konnten.
XV.
Luther behauptete, meist mit eignen Worten der Bibel, insonderheit mit dem Apostel Paulus, daß nicht unsere eigne Gerechtigkeit, sondern das vollgültige Verdienst Christi uns vor Gott gerecht und selig mache; daß also nicht in unseren Wer- ken, sondern in dem Glauben an das Verdienst Christi der wahre Grund unsers Heils zu suchen sey. Damit hatte es nicht die Meynung, daß es gnug sey, bloß historisch zu glauben, oder zu glau- ben, wie die Teufel glauben und zittern, und den Glauben nur im Munde zu führen, ohne ihn in Werken zu zeigen; sondern es verstand sich, einen lebendigen in der Liebe und rechtschaffener Uebung der Tugend thätigen Glauben zu haben. Allein darin gieng doch diese Lehre von der bisherigen gemeinen Lehre der catholischen Kirche wesentlich ab, daß ein Mensch sich nicht auf seine Werke berufen könne, um damit als gerecht vor Gott zu bestehen, und eine ewige Seligkeit als eignes Ver- dienst von Gott begehren zu können. Viel weni- ger hielt man sich jetzt überzeugt, daß nach dem Tode zwischen Seligkeit und Verdammniß noch ein solcher Mittelzustand, wie man ihn unter dem Na-
men
V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
XIV.
Freylich blieb es jetzt nicht bloß beym Predi- gen und Schreiben uͤber theoretiſche oder etwa bloß problematiſche Religionsfragen. Sondern nun- mehr zeigte ſich ſelbſt in den weſentlichſten Lehren der Religion, und zugleich in der ganzen Kirchen- verfaſſung, zwiſchen dem, was bisher obgewaltet hatte, und dem, was nun aufkam, ein ſolcher Unterſchied, daß es nicht mehr moͤglich war, daß beide Theile einerley kirchliche Gemeinſchaft ferner mit einander beybehalten konnten.
XV.
Luther behauptete, meiſt mit eignen Worten der Bibel, inſonderheit mit dem Apoſtel Paulus, daß nicht unſere eigne Gerechtigkeit, ſondern das vollguͤltige Verdienſt Chriſti uns vor Gott gerecht und ſelig mache; daß alſo nicht in unſeren Wer- ken, ſondern in dem Glauben an das Verdienſt Chriſti der wahre Grund unſers Heils zu ſuchen ſey. Damit hatte es nicht die Meynung, daß es gnug ſey, bloß hiſtoriſch zu glauben, oder zu glau- ben, wie die Teufel glauben und zittern, und den Glauben nur im Munde zu fuͤhren, ohne ihn in Werken zu zeigen; ſondern es verſtand ſich, einen lebendigen in der Liebe und rechtſchaffener Uebung der Tugend thaͤtigen Glauben zu haben. Allein darin gieng doch dieſe Lehre von der bisherigen gemeinen Lehre der catholiſchen Kirche weſentlich ab, daß ein Menſch ſich nicht auf ſeine Werke berufen koͤnne, um damit als gerecht vor Gott zu beſtehen, und eine ewige Seligkeit als eignes Ver- dienſt von Gott begehren zu koͤnnen. Viel weni- ger hielt man ſich jetzt uͤberzeugt, daß nach dem Tode zwiſchen Seligkeit und Verdammniß noch ein ſolcher Mittelzuſtand, wie man ihn unter dem Na-
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V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
Freylich blieb es jetzt nicht bloß beym Predi-
gen und Schreiben uͤber theoretiſche oder etwa bloß
problematiſche Religionsfragen. Sondern nun-
mehr zeigte ſich ſelbſt in den weſentlichſten Lehren
der Religion, und zugleich in der ganzen Kirchen-
verfaſſung, zwiſchen dem, was bisher obgewaltet
hatte, und dem, was nun aufkam, ein ſolcher
Unterſchied, daß es nicht mehr moͤglich war, daß
beide Theile einerley kirchliche Gemeinſchaft ferner
mit einander beybehalten konnten.
Luther behauptete, meiſt mit eignen Worten
der Bibel, inſonderheit mit dem Apoſtel Paulus,
daß nicht unſere eigne Gerechtigkeit, ſondern das
vollguͤltige Verdienſt Chriſti uns vor Gott gerecht
und ſelig mache; daß alſo nicht in unſeren Wer-
ken, ſondern in dem Glauben an das Verdienſt
Chriſti der wahre Grund unſers Heils zu ſuchen
ſey. Damit hatte es nicht die Meynung, daß es
gnug ſey, bloß hiſtoriſch zu glauben, oder zu glau-
ben, wie die Teufel glauben und zittern, und den
Glauben nur im Munde zu fuͤhren, ohne ihn in
Werken zu zeigen; ſondern es verſtand ſich, einen
lebendigen in der Liebe und rechtſchaffener Uebung
der Tugend thaͤtigen Glauben zu haben. Allein
darin gieng doch dieſe Lehre von der bisherigen
gemeinen Lehre der catholiſchen Kirche weſentlich
ab, daß ein Menſch ſich nicht auf ſeine Werke
berufen koͤnne, um damit als gerecht vor Gott zu
beſtehen, und eine ewige Seligkeit als eignes Ver-
dienſt von Gott begehren zu koͤnnen. Viel weni-
ger hielt man ſich jetzt uͤberzeugt, daß nach dem
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Pütter, Johann Stephan: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Bd. 1: Bis 1558. Göttingen, 1786, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/puetter_staatsverfassung01_1786/398>, abgerufen am 22.11.2024.
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