Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pütter, Johann Stephan: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Bd. 1: Bis 1558. Göttingen, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

10) Lothar. II. -- Fried. II. 1125-1235.
der Welt immer lebhafter; damit ward aber auch
der Wahn, daß das Römische Gesetzbuch wenig-
stens unter Christlichen Völkern allgemein verbind-
lich sey, immer tiefer gewurzelt. Nur den Ge-
setzen, deren Verbindlichkeit auf dem Ansehen des
Pabstes beruhete, ward nach dem nunmehr ein-
mal angenommenen Verhältnisse zwischen Pabste
und Kaiser, gleich dem zwischen Seele und Leib,
noch der Vorzug zugeeignet. Ein Mönch, Namens
Gratian, machte von neuem eine Sammlung
davon, die bis auf den heutigen Tag einen Haupt-
bestandtheil unsers päbstlich canonischen Gesetzbu-
ches ausmacht. So boten seitdem die beiden Ge-
setzbücher, das päbstliche und kaiserliche, oder geist-
liche und weltliche, einander die Hand; zumal da
vieles aus dem letztern ins erstere aufgenommen
wurde, das deswegen ohne jenes nicht gründlich
zu verstehen war; obgleich im Widerspruche das
päbstliche über dem kaiserlichen immer den Vor-
zug behielt.

Zur Kenntniß und Anwendung des in diesenVI.
beiden Gesetzbüchern enthaltenen Rechts wurde nicht
nur eine Bekanntschaft mit der Lateinischen Sprache,
worin sie geschrieben waren, sondern auch sonst
ungleich mehr Wissenschaft und Geschicklichkeit er-
fordert, als sonst nach der Teutschen Gerichtsver-
fassung nöthig war, so lange man nur nach ein-
heimischen Gebräuchen und der natürlichen Billig-
keit zu urtheilen brauchte. Eben deswegen machte
jetzt auf den so genannten hohen Schulen oder
Universitäten, die nunmehr in England, Frank-
reich und Italien immer in größere Aufnahme ka-
men, die Rechtswissenschaft nach den beiden Ge-

setz-
M 3

10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
der Welt immer lebhafter; damit ward aber auch
der Wahn, daß das Roͤmiſche Geſetzbuch wenig-
ſtens unter Chriſtlichen Voͤlkern allgemein verbind-
lich ſey, immer tiefer gewurzelt. Nur den Ge-
ſetzen, deren Verbindlichkeit auf dem Anſehen des
Pabſtes beruhete, ward nach dem nunmehr ein-
mal angenommenen Verhaͤltniſſe zwiſchen Pabſte
und Kaiſer, gleich dem zwiſchen Seele und Leib,
noch der Vorzug zugeeignet. Ein Moͤnch, Namens
Gratian, machte von neuem eine Sammlung
davon, die bis auf den heutigen Tag einen Haupt-
beſtandtheil unſers paͤbſtlich canoniſchen Geſetzbu-
ches ausmacht. So boten ſeitdem die beiden Ge-
ſetzbuͤcher, das paͤbſtliche und kaiſerliche, oder geiſt-
liche und weltliche, einander die Hand; zumal da
vieles aus dem letztern ins erſtere aufgenommen
wurde, das deswegen ohne jenes nicht gruͤndlich
zu verſtehen war; obgleich im Widerſpruche das
paͤbſtliche uͤber dem kaiſerlichen immer den Vor-
zug behielt.

Zur Kenntniß und Anwendung des in dieſenVI.
beiden Geſetzbuͤchern enthaltenen Rechts wurde nicht
nur eine Bekanntſchaft mit der Lateiniſchen Sprache,
worin ſie geſchrieben waren, ſondern auch ſonſt
ungleich mehr Wiſſenſchaft und Geſchicklichkeit er-
fordert, als ſonſt nach der Teutſchen Gerichtsver-
faſſung noͤthig war, ſo lange man nur nach ein-
heimiſchen Gebraͤuchen und der natuͤrlichen Billig-
keit zu urtheilen brauchte. Eben deswegen machte
jetzt auf den ſo genannten hohen Schulen oder
Univerſitaͤten, die nunmehr in England, Frank-
reich und Italien immer in groͤßere Aufnahme ka-
men, die Rechtswiſſenſchaft nach den beiden Ge-

ſetz-
M 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0215" n="181"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">10) Lothar. <hi rendition="#aq">II.</hi> &#x2014; Fried. <hi rendition="#aq">II.</hi> 1125-1235.</hi></fw><lb/>
der Welt immer lebhafter; damit ward aber auch<lb/>
der Wahn, daß das <hi rendition="#fr">Ro&#x0364;mi&#x017F;che Ge&#x017F;etzbuch</hi> wenig-<lb/>
&#x017F;tens unter Chri&#x017F;tlichen Vo&#x0364;lkern allgemein verbind-<lb/>
lich &#x017F;ey, immer tiefer gewurzelt. Nur den Ge-<lb/>
&#x017F;etzen, deren Verbindlichkeit auf dem An&#x017F;ehen des<lb/>
Pab&#x017F;tes beruhete, ward nach dem nunmehr ein-<lb/>
mal angenommenen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e zwi&#x017F;chen Pab&#x017F;te<lb/>
und Kai&#x017F;er, gleich dem zwi&#x017F;chen Seele und Leib,<lb/>
noch der Vorzug zugeeignet. Ein Mo&#x0364;nch, Namens<lb/><hi rendition="#fr">Gratian,</hi> machte von neuem eine Sammlung<lb/>
davon, die bis auf den heutigen Tag einen Haupt-<lb/>
be&#x017F;tandtheil un&#x017F;ers pa&#x0364;b&#x017F;tlich canoni&#x017F;chen Ge&#x017F;etzbu-<lb/>
ches ausmacht. So boten &#x017F;eitdem die beiden Ge-<lb/>
&#x017F;etzbu&#x0364;cher, das pa&#x0364;b&#x017F;tliche und kai&#x017F;erliche, oder gei&#x017F;t-<lb/>
liche und weltliche, einander die Hand; zumal da<lb/>
vieles aus dem letztern ins er&#x017F;tere aufgenommen<lb/>
wurde, das deswegen ohne jenes nicht gru&#x0364;ndlich<lb/>
zu ver&#x017F;tehen war; obgleich im Wider&#x017F;pruche das<lb/>
pa&#x0364;b&#x017F;tliche u&#x0364;ber dem kai&#x017F;erlichen immer den Vor-<lb/>
zug behielt.</p><lb/>
          <p>Zur Kenntniß und Anwendung des in die&#x017F;en<note place="right"><hi rendition="#aq">VI.</hi></note><lb/>
beiden Ge&#x017F;etzbu&#x0364;chern enthaltenen Rechts wurde nicht<lb/>
nur eine Bekannt&#x017F;chaft mit der Lateini&#x017F;chen Sprache,<lb/>
worin &#x017F;ie ge&#x017F;chrieben waren, &#x017F;ondern auch &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
ungleich mehr Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und Ge&#x017F;chicklichkeit er-<lb/>
fordert, als &#x017F;on&#x017F;t nach der Teut&#x017F;chen Gerichtsver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung no&#x0364;thig war, &#x017F;o lange man nur nach ein-<lb/>
heimi&#x017F;chen Gebra&#x0364;uchen und der natu&#x0364;rlichen Billig-<lb/>
keit zu urtheilen brauchte. Eben deswegen machte<lb/>
jetzt auf den &#x017F;o genannten hohen Schulen oder<lb/><hi rendition="#fr">Univer&#x017F;ita&#x0364;ten,</hi> die nunmehr in England, Frank-<lb/>
reich und Italien immer in gro&#x0364;ßere Aufnahme ka-<lb/>
men, die Rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nach den beiden Ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;etz-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[181/0215] 10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235. der Welt immer lebhafter; damit ward aber auch der Wahn, daß das Roͤmiſche Geſetzbuch wenig- ſtens unter Chriſtlichen Voͤlkern allgemein verbind- lich ſey, immer tiefer gewurzelt. Nur den Ge- ſetzen, deren Verbindlichkeit auf dem Anſehen des Pabſtes beruhete, ward nach dem nunmehr ein- mal angenommenen Verhaͤltniſſe zwiſchen Pabſte und Kaiſer, gleich dem zwiſchen Seele und Leib, noch der Vorzug zugeeignet. Ein Moͤnch, Namens Gratian, machte von neuem eine Sammlung davon, die bis auf den heutigen Tag einen Haupt- beſtandtheil unſers paͤbſtlich canoniſchen Geſetzbu- ches ausmacht. So boten ſeitdem die beiden Ge- ſetzbuͤcher, das paͤbſtliche und kaiſerliche, oder geiſt- liche und weltliche, einander die Hand; zumal da vieles aus dem letztern ins erſtere aufgenommen wurde, das deswegen ohne jenes nicht gruͤndlich zu verſtehen war; obgleich im Widerſpruche das paͤbſtliche uͤber dem kaiſerlichen immer den Vor- zug behielt. Zur Kenntniß und Anwendung des in dieſen beiden Geſetzbuͤchern enthaltenen Rechts wurde nicht nur eine Bekanntſchaft mit der Lateiniſchen Sprache, worin ſie geſchrieben waren, ſondern auch ſonſt ungleich mehr Wiſſenſchaft und Geſchicklichkeit er- fordert, als ſonſt nach der Teutſchen Gerichtsver- faſſung noͤthig war, ſo lange man nur nach ein- heimiſchen Gebraͤuchen und der natuͤrlichen Billig- keit zu urtheilen brauchte. Eben deswegen machte jetzt auf den ſo genannten hohen Schulen oder Univerſitaͤten, die nunmehr in England, Frank- reich und Italien immer in groͤßere Aufnahme ka- men, die Rechtswiſſenſchaft nach den beiden Ge- ſetz- VI. M 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/puetter_staatsverfassung01_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/puetter_staatsverfassung01_1786/215
Zitationshilfe: Pütter, Johann Stephan: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Bd. 1: Bis 1558. Göttingen, 1786, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/puetter_staatsverfassung01_1786/215>, abgerufen am 02.05.2024.