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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831.

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von St. Giles zu besehen, dessen neues colossales,
rosenrothes Zifferblatt mit vielen Lampen erleuchtet,
wie ein herrlicher Stern in der Nacht strahlt.

Zu Hause fand ich Deinen Brief mit allerlei liebe-
vollen Vorwürfen, das Persönliche zu sehr über äußere
Dinge zu vernachläßigen. Wäre dieses auch zuweilen
der Fall, so denke darum doch nicht, daß mein Herz
je weniger von Dir erfüllt sey. Auch die Blume duf-
tet ja zu Zeiten schwächer, zu andern stärker, ja
manchmal gibt es wohl gar keine Blume am Rosen-
strauch, zu seiner Zeit dringen und blühen sie dann
alle wieder hervor -- aber die Natur der Pflanze
bleibt immer dieselbe.

Herders Gebet ist schön, doch hier auf Erden be-
währt es sich nicht, denn hier scheint zwar Gottes
Sonne über Gute und Böse, aber auch Gottes Ge-
witter trifft Gute und Böse. Jeder muß sich selbst
wahren so gut er kann!

Die Menschen sind Dir lästig, sagst Du -- ach
Gott, und wie lästig sind sie mir! Wenn man so
lange in größter Intimität der Austauschung aller
Gefühle, und Aufrichtigkeit aller Gedanken mit ein-
ander gelebt hat, wird der Umgang mit der banalen,
theilnahmlosen Welt oft mehr als leer und ge-
schmacklos.

Deine Hypothese, daß hier verwandte Seelen einst
in einer andern Welt zu einem Wesen sich ver-
schmelzen, ist wohl lieblich, aber mit Dir möchte ich

von St. Giles zu beſehen, deſſen neues coloſſales,
roſenrothes Zifferblatt mit vielen Lampen erleuchtet,
wie ein herrlicher Stern in der Nacht ſtrahlt.

Zu Hauſe fand ich Deinen Brief mit allerlei liebe-
vollen Vorwürfen, das Perſönliche zu ſehr über äußere
Dinge zu vernachläßigen. Wäre dieſes auch zuweilen
der Fall, ſo denke darum doch nicht, daß mein Herz
je weniger von Dir erfüllt ſey. Auch die Blume duf-
tet ja zu Zeiten ſchwächer, zu andern ſtärker, ja
manchmal gibt es wohl gar keine Blume am Roſen-
ſtrauch, zu ſeiner Zeit dringen und blühen ſie dann
alle wieder hervor — aber die Natur der Pflanze
bleibt immer dieſelbe.

Herders Gebet iſt ſchön, doch hier auf Erden be-
währt es ſich nicht, denn hier ſcheint zwar Gottes
Sonne über Gute und Böſe, aber auch Gottes Ge-
witter trifft Gute und Böſe. Jeder muß ſich ſelbſt
wahren ſo gut er kann!

Die Menſchen ſind Dir läſtig, ſagſt Du — ach
Gott, und wie läſtig ſind ſie mir! Wenn man ſo
lange in größter Intimität der Austauſchung aller
Gefühle, und Aufrichtigkeit aller Gedanken mit ein-
ander gelebt hat, wird der Umgang mit der banalen,
theilnahmloſen Welt oft mehr als leer und ge-
ſchmacklos.

Deine Hypotheſe, daß hier verwandte Seelen einſt
in einer andern Welt zu einem Weſen ſich ver-
ſchmelzen, iſt wohl lieblich, aber mit Dir möchte ich

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[92/0108] von St. Giles zu beſehen, deſſen neues coloſſales, roſenrothes Zifferblatt mit vielen Lampen erleuchtet, wie ein herrlicher Stern in der Nacht ſtrahlt. Zu Hauſe fand ich Deinen Brief mit allerlei liebe- vollen Vorwürfen, das Perſönliche zu ſehr über äußere Dinge zu vernachläßigen. Wäre dieſes auch zuweilen der Fall, ſo denke darum doch nicht, daß mein Herz je weniger von Dir erfüllt ſey. Auch die Blume duf- tet ja zu Zeiten ſchwächer, zu andern ſtärker, ja manchmal gibt es wohl gar keine Blume am Roſen- ſtrauch, zu ſeiner Zeit dringen und blühen ſie dann alle wieder hervor — aber die Natur der Pflanze bleibt immer dieſelbe. Herders Gebet iſt ſchön, doch hier auf Erden be- währt es ſich nicht, denn hier ſcheint zwar Gottes Sonne über Gute und Böſe, aber auch Gottes Ge- witter trifft Gute und Böſe. Jeder muß ſich ſelbſt wahren ſo gut er kann! Die Menſchen ſind Dir läſtig, ſagſt Du — ach Gott, und wie läſtig ſind ſie mir! Wenn man ſo lange in größter Intimität der Austauſchung aller Gefühle, und Aufrichtigkeit aller Gedanken mit ein- ander gelebt hat, wird der Umgang mit der banalen, theilnahmloſen Welt oft mehr als leer und ge- ſchmacklos. Deine Hypotheſe, daß hier verwandte Seelen einſt in einer andern Welt zu einem Weſen ſich ver- ſchmelzen, iſt wohl lieblich, aber mit Dir möchte ich

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/108>, abgerufen am 28.04.2024.