Shakespeares Leben gemaltes Portrait dieses Dich- ters, von Barnage. Die Hypercritiker in England wollen zwar durchaus kein ächtes Portrait Shakes- peares statuir[e]n, aber mir scheint es fast unmöglich, eine Physiognomie zu erfinden, die so siegend den Charakter der Wahrheit an sich trüge, so ganz die Größe und Originalität des Mannes ausspräche, den sie darstellt, ausgestattet mit aller geistigen Erhaben- heit, allem Scharfsinn, Witz, Feinheit, und jenem ächten Humor, dessen unerschöpflicher Reichthum kei- nem andern Sterblichen je wieder so zu Theil gewor- den ist. Das Gesicht ist keineswegs, was man ge- meinhin schön nennt, aber die erhabene Schönheit des dahinterwohnenden Geistes wird im ersten Au- genblicke klar. Um die hohe Stirne spielt dieser kühne Geist in blitzenden Lichtern, durchdringend sind die großen dunkelbraunen Augen, feurig und mild; nur um die Lippen schwebt leiser Spott und gutmüthige Schlauheit, aber mit einem so lieblichen Lächeln ver- schwistert, daß dieses erst der sonst ernsten Würde des Ganzen, den größten, menschlich gewinnenden, Reiz verleiht. Wunderbar vollkommen erscheint da- bei der Bau des Schädels und der Stirne, die keine einzelne besonders hervorstehende Erhöhung, aber alle Organe so gewölbt und ausgebildet zeigt, daß man über die Harmonie eines so musterhaft organisirten Kopfes erstaunt, und eine wahre Freude fühlt, das Bild des Mannes mit seinen Werken in so schö- nem Einklang zu finden.
Shakespeares Leben gemaltes Portrait dieſes Dich- ters, von Barnage. Die Hypercritiker in England wollen zwar durchaus kein ächtes Portrait Shakes- peares ſtatuir[e]n, aber mir ſcheint es faſt unmöglich, eine Phyſiognomie zu erfinden, die ſo ſiegend den Charakter der Wahrheit an ſich trüge, ſo ganz die Größe und Originalität des Mannes ausſpräche, den ſie darſtellt, ausgeſtattet mit aller geiſtigen Erhaben- heit, allem Scharfſinn, Witz, Feinheit, und jenem ächten Humor, deſſen unerſchöpflicher Reichthum kei- nem andern Sterblichen je wieder ſo zu Theil gewor- den iſt. Das Geſicht iſt keineswegs, was man ge- meinhin ſchön nennt, aber die erhabene Schönheit des dahinterwohnenden Geiſtes wird im erſten Au- genblicke klar. Um die hohe Stirne ſpielt dieſer kühne Geiſt in blitzenden Lichtern, durchdringend ſind die großen dunkelbraunen Augen, feurig und mild; nur um die Lippen ſchwebt leiſer Spott und gutmüthige Schlauheit, aber mit einem ſo lieblichen Lächeln ver- ſchwiſtert, daß dieſes erſt der ſonſt ernſten Würde des Ganzen, den größten, menſchlich gewinnenden, Reiz verleiht. Wunderbar vollkommen erſcheint da- bei der Bau des Schädels und der Stirne, die keine einzelne beſonders hervorſtehende Erhöhung, aber alle Organe ſo gewölbt und ausgebildet zeigt, daß man über die Harmonie eines ſo muſterhaft organiſirten Kopfes erſtaunt, und eine wahre Freude fühlt, das Bild des Mannes mit ſeinen Werken in ſo ſchö- nem Einklang zu finden.
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Shakespeares Leben gemaltes Portrait dieſes Dich-
ters, von Barnage. Die Hypercritiker in England
wollen zwar durchaus kein ächtes Portrait Shakes-
peares ſtatuiren, aber mir ſcheint es faſt unmöglich,
eine Phyſiognomie zu erfinden, die ſo ſiegend den
Charakter der Wahrheit an ſich trüge, ſo ganz die
Größe und Originalität des Mannes ausſpräche, den
ſie darſtellt, ausgeſtattet mit aller geiſtigen Erhaben-
heit, allem Scharfſinn, Witz, Feinheit, und jenem
ächten Humor, deſſen unerſchöpflicher Reichthum kei-
nem andern Sterblichen je wieder ſo zu Theil gewor-
den iſt. Das Geſicht iſt keineswegs, was man ge-
meinhin ſchön nennt, aber die erhabene Schönheit
des dahinterwohnenden Geiſtes wird im erſten Au-
genblicke klar. Um die hohe Stirne ſpielt dieſer kühne
Geiſt in blitzenden Lichtern, durchdringend ſind die
großen dunkelbraunen Augen, feurig und mild; nur
um die Lippen ſchwebt leiſer Spott und gutmüthige
Schlauheit, aber mit einem ſo lieblichen Lächeln ver-
ſchwiſtert, daß dieſes erſt der ſonſt ernſten Würde
des Ganzen, den größten, menſchlich gewinnenden,
Reiz verleiht. Wunderbar vollkommen erſcheint da-
bei der Bau des Schädels und der Stirne, die keine
einzelne beſonders hervorſtehende Erhöhung, aber alle
Organe ſo gewölbt und ausgebildet zeigt, daß man
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/345>, abgerufen am 22.11.2024.
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