Restaurateurs, die mir, wenn ich nach dem Beliebte- sten, den ich heute besuchte, urtheilen darf, etwas degenerirt scheinen. Ihre, schon sonst ziemlich langen Carten, haben sich zwar seitdem in elegant gebundne Bücher verwandelt, aber die Qualität der Gerichte und Weine hat in demselben Maße abgenommen. Ich eilte nach dieser traurigen Erfahrung zu dem ehemals berühmten Rocher de Cancale. Aber auch "Baleine" ist ins Meer der Ewigkeit zurückgeschwom- men, und wer sich künftig auf den Cancalischen Fel- sen verläßt, hat auf Sand gebaut. Sic transit glo- ria mundi!
Alles Lob mußte ich dagegen dem Theatre de Ma- dame spenden, wo ich meinen Abend zubrachte, Leon- tine Fay ist eine allerliebste Schauspielerin, und ein besseres ensemble kann nirgends gefunden werden. Da ich grade von England kam, so frappirte mich um so mehr die Natürlichkeit, mit der Leontine Fay, in Malvina, die in England erzogne Französin mei- sterhaft wiedergab, ohne daß durch diese Nüance dem übrigen Charakter der mindeste Abbruch geschah. In ihrem künstlerischen Spiel ist keine Copie der Made- moiselle Mars zu entdecken, und dennoch sieht man, auf andre Weise, ein eben so treues und zartes Na- turbild dargestellt. Das zweite Stück, eine Posse, wo ein provinzieller Onkel seine kleine Stadt, in der er eben zum Mitgliede eines Tugendvereins aufgenommen werden soll, schleunig verläßt, um sei- nen Neffen in Paris, über den er die beunruhigend-
Reſtaurateurs, die mir, wenn ich nach dem Beliebte- ſten, den ich heute beſuchte, urtheilen darf, etwas degenerirt ſcheinen. Ihre, ſchon ſonſt ziemlich langen Carten, haben ſich zwar ſeitdem in elegant gebundne Bücher verwandelt, aber die Qualität der Gerichte und Weine hat in demſelben Maße abgenommen. Ich eilte nach dieſer traurigen Erfahrung zu dem ehemals berühmten Rocher de Cancale. Aber auch „Baleine“ iſt ins Meer der Ewigkeit zurückgeſchwom- men, und wer ſich künftig auf den Cancaliſchen Fel- ſen verläßt, hat auf Sand gebaut. Sic transit glo- ria mundi!
Alles Lob mußte ich dagegen dem Theatre de Ma- dame ſpenden, wo ich meinen Abend zubrachte, Leon- tine Fay iſt eine allerliebſte Schauſpielerin, und ein beſſeres ensemble kann nirgends gefunden werden. Da ich grade von England kam, ſo frappirte mich um ſo mehr die Natürlichkeit, mit der Leontine Fay, in Malvina, die in England erzogne Franzöſin mei- ſterhaft wiedergab, ohne daß durch dieſe Nüance dem übrigen Charakter der mindeſte Abbruch geſchah. In ihrem künſtleriſchen Spiel iſt keine Copie der Made- moiſelle Mars zu entdecken, und dennoch ſieht man, auf andre Weiſe, ein eben ſo treues und zartes Na- turbild dargeſtellt. Das zweite Stück, eine Poſſe, wo ein provinzieller Onkel ſeine kleine Stadt, in der er eben zum Mitgliede eines Tugendvereins aufgenommen werden ſoll, ſchleunig verläßt, um ſei- nen Neffen in Paris, über den er die beunruhigend-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0352"n="330"/>
Reſtaurateurs, die mir, wenn ich nach dem Beliebte-<lb/>ſten, den ich heute beſuchte, urtheilen darf, etwas<lb/>
degenerirt ſcheinen. Ihre, ſchon ſonſt ziemlich langen<lb/>
Carten, haben ſich zwar ſeitdem in elegant gebundne<lb/>
Bücher verwandelt, aber die Qualität der Gerichte<lb/>
und Weine hat in demſelben Maße abgenommen.<lb/>
Ich eilte nach dieſer traurigen Erfahrung zu dem<lb/>
ehemals berühmten <hirendition="#aq">Rocher de Cancale.</hi> Aber auch<lb/><hirendition="#aq">„Baleine“</hi> iſt ins Meer der Ewigkeit zurückgeſchwom-<lb/>
men, und wer ſich künftig auf den Cancaliſchen Fel-<lb/>ſen verläßt, hat auf Sand gebaut. <hirendition="#aq">Sic transit glo-<lb/>
ria mundi!</hi></p><lb/><p>Alles Lob mußte ich dagegen dem <hirendition="#aq">Theatre de Ma-<lb/>
dame</hi>ſpenden, wo ich meinen Abend zubrachte, Leon-<lb/>
tine Fay iſt eine allerliebſte Schauſpielerin, und ein<lb/>
beſſeres <hirendition="#aq">ensemble</hi> kann nirgends gefunden werden.<lb/>
Da ich grade von England kam, ſo frappirte mich<lb/>
um ſo mehr die Natürlichkeit, mit der Leontine Fay,<lb/>
in Malvina, die in England erzogne Franzöſin mei-<lb/>ſterhaft wiedergab, ohne daß durch dieſe Nüance dem<lb/>
übrigen Charakter der mindeſte Abbruch geſchah. In<lb/>
ihrem künſtleriſchen Spiel iſt keine Copie der Made-<lb/>
moiſelle Mars zu entdecken, und dennoch ſieht man,<lb/>
auf andre Weiſe, ein eben ſo treues und zartes Na-<lb/>
turbild dargeſtellt. Das zweite Stück, eine Poſſe,<lb/>
wo ein provinzieller Onkel ſeine kleine Stadt, in der<lb/>
er eben zum Mitgliede eines <hirendition="#g">Tugendvereins</hi><lb/>
aufgenommen werden ſoll, ſchleunig verläßt, um ſei-<lb/>
nen Neffen in Paris, über den er die beunruhigend-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[330/0352]
Reſtaurateurs, die mir, wenn ich nach dem Beliebte-
ſten, den ich heute beſuchte, urtheilen darf, etwas
degenerirt ſcheinen. Ihre, ſchon ſonſt ziemlich langen
Carten, haben ſich zwar ſeitdem in elegant gebundne
Bücher verwandelt, aber die Qualität der Gerichte
und Weine hat in demſelben Maße abgenommen.
Ich eilte nach dieſer traurigen Erfahrung zu dem
ehemals berühmten Rocher de Cancale. Aber auch
„Baleine“ iſt ins Meer der Ewigkeit zurückgeſchwom-
men, und wer ſich künftig auf den Cancaliſchen Fel-
ſen verläßt, hat auf Sand gebaut. Sic transit glo-
ria mundi!
Alles Lob mußte ich dagegen dem Theatre de Ma-
dame ſpenden, wo ich meinen Abend zubrachte, Leon-
tine Fay iſt eine allerliebſte Schauſpielerin, und ein
beſſeres ensemble kann nirgends gefunden werden.
Da ich grade von England kam, ſo frappirte mich
um ſo mehr die Natürlichkeit, mit der Leontine Fay,
in Malvina, die in England erzogne Franzöſin mei-
ſterhaft wiedergab, ohne daß durch dieſe Nüance dem
übrigen Charakter der mindeſte Abbruch geſchah. In
ihrem künſtleriſchen Spiel iſt keine Copie der Made-
moiſelle Mars zu entdecken, und dennoch ſieht man,
auf andre Weiſe, ein eben ſo treues und zartes Na-
turbild dargeſtellt. Das zweite Stück, eine Poſſe,
wo ein provinzieller Onkel ſeine kleine Stadt, in der
er eben zum Mitgliede eines Tugendvereins
aufgenommen werden ſoll, ſchleunig verläßt, um ſei-
nen Neffen in Paris, über den er die beunruhigend-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/352>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.