Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

und hat denn wirklich das Christenthum bis zu die-
ser Epoche sich Bahn brechen können, hatte es zur Zeit
des dreißigjährigen Krieges, zur Zeit der englischen
Maria, die schwangere Weiber verbrennen ließ, welche
in den Flammen niederkamen, zur Zeit der Inqui-
sition, horribile dictu! schon die Sitten gemildert,
die Menschen barmherziger, sittlicher, liebender ge-
macht? Ich sehe wenig Spuren davon. Freiheit der
Presse war der große Schritt, der uns dem Zwecke
allgemeiner Aufklärung in neuern Zeiten unendlich
näher gebracht, und den Begebenheiten einen solchen
Schwung gegeben hat, daß wir in einem Jahrzehend
jetzt mehr erleben, als unsre Vorfahren in einem
Jahrhundert. Nur die Masse der Einsicht, die hier-
durch endlich herbeigeführt werden muß, kann der
Menschheit wahrhaft nützen. Zu jeder Zeit hat es
große, vielleicht unübertreffbare, einzelne Men-
schen gegeben, und obgleich ihre Wirkung auf das
Ganze nicht verloren war, konnten sie doch gewöhn-
lich nur, gleich einem Meteor, eine momentane und
partielle Helle verbreiten, die im Laufe der Zeiten
schnell wieder verblich. Man nehme nur gleich das
höchste Beispiel, Christus, der noch obendrein unter
den möglichst günstigsten Umständen erschien, wie
unser Gibbon so klar gezeigt hat. Wie viel Millio-
nen nannten und nennen sich nun nach ihm, und
wieviel davon sind wahre Christen? Er der freisin-
nigste und liberalste der Menschen, mußte dem Des-
potismus, der Verfolgung, der Lüge nun bald Jahr-

und hat denn wirklich das Chriſtenthum bis zu die-
ſer Epoche ſich Bahn brechen können, hatte es zur Zeit
des dreißigjährigen Krieges, zur Zeit der engliſchen
Maria, die ſchwangere Weiber verbrennen ließ, welche
in den Flammen niederkamen, zur Zeit der Inqui-
ſition, horribile dictu! ſchon die Sitten gemildert,
die Menſchen barmherziger, ſittlicher, liebender ge-
macht? Ich ſehe wenig Spuren davon. Freiheit der
Preſſe war der große Schritt, der uns dem Zwecke
allgemeiner Aufklärung in neuern Zeiten unendlich
näher gebracht, und den Begebenheiten einen ſolchen
Schwung gegeben hat, daß wir in einem Jahrzehend
jetzt mehr erleben, als unſre Vorfahren in einem
Jahrhundert. Nur die Maſſe der Einſicht, die hier-
durch endlich herbeigeführt werden muß, kann der
Menſchheit wahrhaft nützen. Zu jeder Zeit hat es
große, vielleicht unübertreffbare, einzelne Men-
ſchen gegeben, und obgleich ihre Wirkung auf das
Ganze nicht verloren war, konnten ſie doch gewöhn-
lich nur, gleich einem Meteor, eine momentane und
partielle Helle verbreiten, die im Laufe der Zeiten
ſchnell wieder verblich. Man nehme nur gleich das
höchſte Beiſpiel, Chriſtus, der noch obendrein unter
den möglichſt günſtigſten Umſtänden erſchien, wie
unſer Gibbon ſo klar gezeigt hat. Wie viel Millio-
nen nannten und nennen ſich nun nach ihm, und
wieviel davon ſind wahre Chriſten? Er der freiſin-
nigſte und liberalſte der Menſchen, mußte dem Des-
potismus, der Verfolgung, der Lüge nun bald Jahr-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0254" n="232"/>
und hat denn wirklich das Chri&#x017F;tenthum bis zu die-<lb/>
&#x017F;er Epoche &#x017F;ich Bahn brechen können, hatte es zur Zeit<lb/>
des <choice><sic>dreißigja&#x0307;hrigen</sic><corr>dreißigjährigen</corr></choice> Krieges, zur Zeit der engli&#x017F;chen<lb/>
Maria, die &#x017F;chwangere Weiber verbrennen ließ, welche<lb/>
in den Flammen niederkamen, zur Zeit der Inqui-<lb/>
&#x017F;ition, <hi rendition="#aq">horribile dictu!</hi> &#x017F;chon die Sitten gemildert,<lb/>
die Men&#x017F;chen barmherziger, &#x017F;ittlicher, liebender ge-<lb/>
macht? Ich &#x017F;ehe wenig Spuren davon. Freiheit der<lb/>
Pre&#x017F;&#x017F;e war der große Schritt, der uns dem Zwecke<lb/>
allgemeiner Aufklärung in neuern Zeiten unendlich<lb/>
näher gebracht, und den Begebenheiten einen &#x017F;olchen<lb/>
Schwung gegeben hat, daß wir in einem Jahrzehend<lb/>
jetzt mehr erleben, als un&#x017F;re Vorfahren in einem<lb/>
Jahrhundert. Nur die Ma&#x017F;&#x017F;e der Ein&#x017F;icht, die hier-<lb/>
durch endlich herbeigeführt werden muß, kann der<lb/>
Men&#x017F;chheit wahrhaft nützen. Zu jeder Zeit hat es<lb/>
große, vielleicht <hi rendition="#g">unübertreffbare</hi>, einzelne Men-<lb/>
&#x017F;chen gegeben, und obgleich ihre Wirkung auf das<lb/>
Ganze nicht verloren war, konnten &#x017F;ie doch gewöhn-<lb/>
lich nur, gleich einem Meteor, eine momentane und<lb/>
partielle Helle verbreiten, die im Laufe der Zeiten<lb/>
&#x017F;chnell wieder verblich. Man nehme nur gleich das<lb/>
höch&#x017F;te Bei&#x017F;piel, Chri&#x017F;tus, der noch obendrein unter<lb/>
den möglich&#x017F;t gün&#x017F;tig&#x017F;ten Um&#x017F;tänden er&#x017F;chien, wie<lb/>
un&#x017F;er Gibbon &#x017F;o klar gezeigt hat. Wie viel Millio-<lb/>
nen nannten und nennen &#x017F;ich nun nach ihm, und<lb/>
wieviel davon &#x017F;ind wahre Chri&#x017F;ten? Er der frei&#x017F;in-<lb/>
nig&#x017F;te und liberal&#x017F;te der Men&#x017F;chen, mußte dem Des-<lb/>
potismus, der Verfolgung, der Lüge nun bald Jahr-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0254] und hat denn wirklich das Chriſtenthum bis zu die- ſer Epoche ſich Bahn brechen können, hatte es zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, zur Zeit der engliſchen Maria, die ſchwangere Weiber verbrennen ließ, welche in den Flammen niederkamen, zur Zeit der Inqui- ſition, horribile dictu! ſchon die Sitten gemildert, die Menſchen barmherziger, ſittlicher, liebender ge- macht? Ich ſehe wenig Spuren davon. Freiheit der Preſſe war der große Schritt, der uns dem Zwecke allgemeiner Aufklärung in neuern Zeiten unendlich näher gebracht, und den Begebenheiten einen ſolchen Schwung gegeben hat, daß wir in einem Jahrzehend jetzt mehr erleben, als unſre Vorfahren in einem Jahrhundert. Nur die Maſſe der Einſicht, die hier- durch endlich herbeigeführt werden muß, kann der Menſchheit wahrhaft nützen. Zu jeder Zeit hat es große, vielleicht unübertreffbare, einzelne Men- ſchen gegeben, und obgleich ihre Wirkung auf das Ganze nicht verloren war, konnten ſie doch gewöhn- lich nur, gleich einem Meteor, eine momentane und partielle Helle verbreiten, die im Laufe der Zeiten ſchnell wieder verblich. Man nehme nur gleich das höchſte Beiſpiel, Chriſtus, der noch obendrein unter den möglichſt günſtigſten Umſtänden erſchien, wie unſer Gibbon ſo klar gezeigt hat. Wie viel Millio- nen nannten und nennen ſich nun nach ihm, und wieviel davon ſind wahre Chriſten? Er der freiſin- nigſte und liberalſte der Menſchen, mußte dem Des- potismus, der Verfolgung, der Lüge nun bald Jahr-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/254
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/254>, abgerufen am 22.11.2024.