Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

darüber reflectirt und jenes zurück hält, entsteht
schon ganz natürlich aus der, so zu sagen, doppelten
Natur und Bestimmung des Menschen, nämlich, in-
dem er zugleich als Individuum, und auch als ein
integrirender Theil der Gesellschaft leben soll und
muß. Zur letztern Existenz war die Gabe der Sprache
nöthig, oder sie konnte gar nicht ins Leben treten,
nicht werden. Der einzelne Mensch, isolirt hinge-
stellt, ist durchaus, und bleibt, nichts als das mit
dem besten Intellekt begabte Thier; er hat nicht
mehr Seele als dieses. Der Versuch kann noch täg-
lich wiederholt werden. So wie dieser Mensch aber
gemeinschaftlich mit andern zu leben anfängt, und
durch Sprache ein Austausch von Wahrnehmungen
möglich wird, erkennt er bald, daß der Einzelne sich
zu seinem eignen Besten dem Ganzen, der Gesell-
schaft, zu der er mitgehört, unterordnen, für deren
Bestehen Opfer bringen muß, und hier erst, könnte
man sagen, entsteht die Essenz der Seele, das Mo-
ralprinzip. Das Gefühl seiner Schwäche und Un-
wissenheit gebiert zugleich die Religion, das Gefühl
Andrer zu bedürfen, die Liebe. Eigennutz und Hu-
manität treten nun in jenen fortwährenden Anta-
gonismus, den man, ich weiß nicht warum, das un-
erforschliche Räthsel des Lebens nennt, da mir der
ausgesprochnen Ansicht gemäß, nichts folgerechter und
natürlicher erscheint. Die Aufgabe für den Men-
schen wird demnach nur seyn, zwischen beiden Po-
len das gehörige Gleichgewicht herzustellen. Je
vollständiger dies erreicht wird, je wohler befindet

darüber reflectirt und jenes zurück hält, entſteht
ſchon ganz natürlich aus der, ſo zu ſagen, doppelten
Natur und Beſtimmung des Menſchen, nämlich, in-
dem er zugleich als Individuum, und auch als ein
integrirender Theil der Geſellſchaft leben ſoll und
muß. Zur letztern Exiſtenz war die Gabe der Sprache
nöthig, oder ſie konnte gar nicht ins Leben treten,
nicht werden. Der einzelne Menſch, iſolirt hinge-
ſtellt, iſt durchaus, und bleibt, nichts als das mit
dem beſten Intellekt begabte Thier; er hat nicht
mehr Seele als dieſes. Der Verſuch kann noch täg-
lich wiederholt werden. So wie dieſer Menſch aber
gemeinſchaftlich mit andern zu leben anfängt, und
durch Sprache ein Austauſch von Wahrnehmungen
möglich wird, erkennt er bald, daß der Einzelne ſich
zu ſeinem eignen Beſten dem Ganzen, der Geſell-
ſchaft, zu der er mitgehört, unterordnen, für deren
Beſtehen Opfer bringen muß, und hier erſt, könnte
man ſagen, entſteht die Eſſenz der Seele, das Mo-
ralprinzip. Das Gefühl ſeiner Schwäche und Un-
wiſſenheit gebiert zugleich die Religion, das Gefühl
Andrer zu bedürfen, die Liebe. Eigennutz und Hu-
manität treten nun in jenen fortwährenden Anta-
gonismus, den man, ich weiß nicht warum, das un-
erforſchliche Räthſel des Lebens nennt, da mir der
ausgeſprochnen Anſicht gemäß, nichts folgerechter und
natürlicher erſcheint. Die Aufgabe für den Men-
ſchen wird demnach nur ſeyn, zwiſchen beiden Po-
len das gehörige Gleichgewicht herzuſtellen. Je
vollſtändiger dies erreicht wird, je wohler befindet

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0246" n="224"/>
darüber reflectirt und jenes zurück hält, ent&#x017F;teht<lb/>
&#x017F;chon ganz natürlich aus der, &#x017F;o zu &#x017F;agen, doppelten<lb/>
Natur und Be&#x017F;timmung des Men&#x017F;chen, <choice><sic>na&#x0307;mlich</sic><corr>nämlich</corr></choice>, in-<lb/>
dem er zugleich als Individuum, und auch als ein<lb/>
integrirender Theil der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft leben &#x017F;oll und<lb/>
muß. Zur letztern Exi&#x017F;tenz war die Gabe der Sprache<lb/>
nöthig, oder &#x017F;ie konnte gar nicht ins Leben treten,<lb/>
nicht werden. Der einzelne Men&#x017F;ch, i&#x017F;olirt hinge-<lb/>
&#x017F;tellt, i&#x017F;t durchaus, und bleibt, nichts als das mit<lb/>
dem be&#x017F;ten Intellekt begabte Thier; er hat nicht<lb/>
mehr Seele als die&#x017F;es. Der Ver&#x017F;uch kann noch täg-<lb/>
lich wiederholt werden. So wie die&#x017F;er Men&#x017F;ch aber<lb/>
gemein&#x017F;chaftlich mit andern zu leben anfängt, und<lb/>
durch <hi rendition="#g">Sprache</hi> ein Austau&#x017F;ch von Wahrnehmungen<lb/>
möglich wird, erkennt er bald, daß der Einzelne &#x017F;ich<lb/>
zu &#x017F;einem eignen Be&#x017F;ten dem Ganzen, der Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft, zu der er mitgehört, unterordnen, für deren<lb/>
Be&#x017F;tehen Opfer bringen muß, und hier er&#x017F;t, könnte<lb/>
man &#x017F;agen, ent&#x017F;teht die E&#x017F;&#x017F;enz der Seele, das Mo-<lb/>
ralprinzip. Das Gefühl &#x017F;einer Schwäche und Un-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;enheit gebiert zugleich die Religion, das Gefühl<lb/>
Andrer zu bedürfen, die Liebe. Eigennutz und Hu-<lb/>
manität treten nun in jenen fortwährenden Anta-<lb/>
gonismus, den man, ich weiß nicht warum, das un-<lb/>
erfor&#x017F;chliche Räth&#x017F;el des Lebens nennt, da mir der<lb/>
ausge&#x017F;prochnen An&#x017F;icht gemäß, nichts folgerechter und<lb/>
natürlicher er&#x017F;cheint. Die Aufgabe für den Men-<lb/>
&#x017F;chen wird demnach nur &#x017F;eyn, zwi&#x017F;chen beiden Po-<lb/>
len das gehörige Gleichgewicht herzu&#x017F;tellen. Je<lb/>
voll&#x017F;tändiger dies erreicht wird, je wohler befindet<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0246] darüber reflectirt und jenes zurück hält, entſteht ſchon ganz natürlich aus der, ſo zu ſagen, doppelten Natur und Beſtimmung des Menſchen, nämlich, in- dem er zugleich als Individuum, und auch als ein integrirender Theil der Geſellſchaft leben ſoll und muß. Zur letztern Exiſtenz war die Gabe der Sprache nöthig, oder ſie konnte gar nicht ins Leben treten, nicht werden. Der einzelne Menſch, iſolirt hinge- ſtellt, iſt durchaus, und bleibt, nichts als das mit dem beſten Intellekt begabte Thier; er hat nicht mehr Seele als dieſes. Der Verſuch kann noch täg- lich wiederholt werden. So wie dieſer Menſch aber gemeinſchaftlich mit andern zu leben anfängt, und durch Sprache ein Austauſch von Wahrnehmungen möglich wird, erkennt er bald, daß der Einzelne ſich zu ſeinem eignen Beſten dem Ganzen, der Geſell- ſchaft, zu der er mitgehört, unterordnen, für deren Beſtehen Opfer bringen muß, und hier erſt, könnte man ſagen, entſteht die Eſſenz der Seele, das Mo- ralprinzip. Das Gefühl ſeiner Schwäche und Un- wiſſenheit gebiert zugleich die Religion, das Gefühl Andrer zu bedürfen, die Liebe. Eigennutz und Hu- manität treten nun in jenen fortwährenden Anta- gonismus, den man, ich weiß nicht warum, das un- erforſchliche Räthſel des Lebens nennt, da mir der ausgeſprochnen Anſicht gemäß, nichts folgerechter und natürlicher erſcheint. Die Aufgabe für den Men- ſchen wird demnach nur ſeyn, zwiſchen beiden Po- len das gehörige Gleichgewicht herzuſtellen. Je vollſtändiger dies erreicht wird, je wohler befindet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/246
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/246>, abgerufen am 02.05.2024.