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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

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Daß eine gewisse, nöthige Täuschung unser wirk-
liches Element sey, wenigstens die Bedingung unsres
irdischen Lebens, zeigt sich in Allem. Wir sehnen
uns nach der Vergangenheit, schwelgen in Bil-
dern der Zukunft und kennen keine Gegenwart.
Das einzig Wahre -- der Geist -- bildet freilich den
unsichtbaren Kern, und an ihm bildet sich die bunte
Scheinfrucht des Lebens aus. So bleibt es bei
Goethe's tiefem Wort "Wahrheit und Dichtung" --
Geist und Erscheinung.


Was mich oft und bitter verdrießen kann, ist, die
Leute über das elende Leben hier klagen, und die
Welt ein Jammerthal nennen zu hören. Dies ist
nicht nur die himmelschreiendste Undankbarkeit (mensch-
lich gesprochen) sondern auch die wahre Sünde gegen
den heiligen Geist. Ist nicht offenbar Genuß und
Wohlseyn durch die ganze Welt der positive Normal-
Zustand, Leiden, Böses, Verkrüppeltes nur die nega-
tive Schattenseite? Ist nicht das Leben ein ewiges
Fest für das gesunde Auge, im Anschauen dessen und
seiner Herrlichkeit, man anbetend selig werden kann!
Und wäre es nur der tägliche Anblick der Sonne und
der mächtigen Sterne Glanz, der Bäume Grünen
und Blüthen, und der tausend Blumen Schmelz, der
Vögel Jubelgesang und aller Geschöpfe üppige Fülle
und reiche Sinnenlust -- es wäre schon viel, um sich
des Lebens zu freuen -- aber welches mehr wunder-

Daß eine gewiſſe, nöthige Täuſchung unſer wirk-
liches Element ſey, wenigſtens die Bedingung unſres
irdiſchen Lebens, zeigt ſich in Allem. Wir ſehnen
uns nach der Vergangenheit, ſchwelgen in Bil-
dern der Zukunft und kennen keine Gegenwart.
Das einzig Wahre — der Geiſt — bildet freilich den
unſichtbaren Kern, und an ihm bildet ſich die bunte
Scheinfrucht des Lebens aus. So bleibt es bei
Goethe’s tiefem Wort „Wahrheit und Dichtung“ —
Geiſt und Erſcheinung.


Was mich oft und bitter verdrießen kann, iſt, die
Leute über das elende Leben hier klagen, und die
Welt ein Jammerthal nennen zu hören. Dies iſt
nicht nur die himmelſchreiendſte Undankbarkeit (menſch-
lich geſprochen) ſondern auch die wahre Sünde gegen
den heiligen Geiſt. Iſt nicht offenbar Genuß und
Wohlſeyn durch die ganze Welt der poſitive Normal-
Zuſtand, Leiden, Böſes, Verkrüppeltes nur die nega-
tive Schattenſeite? Iſt nicht das Leben ein ewiges
Feſt für das geſunde Auge, im Anſchauen deſſen und
ſeiner Herrlichkeit, man anbetend ſelig werden kann!
Und wäre es nur der tägliche Anblick der Sonne und
der mächtigen Sterne Glanz, der Bäume Grünen
und Blüthen, und der tauſend Blumen Schmelz, der
Vögel Jubelgeſang und aller Geſchöpfe üppige Fülle
und reiche Sinnenluſt — es wäre ſchon viel, um ſich
des Lebens zu freuen — aber welches mehr wunder-

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[222/0244] Daß eine gewiſſe, nöthige Täuſchung unſer wirk- liches Element ſey, wenigſtens die Bedingung unſres irdiſchen Lebens, zeigt ſich in Allem. Wir ſehnen uns nach der Vergangenheit, ſchwelgen in Bil- dern der Zukunft und kennen keine Gegenwart. Das einzig Wahre — der Geiſt — bildet freilich den unſichtbaren Kern, und an ihm bildet ſich die bunte Scheinfrucht des Lebens aus. So bleibt es bei Goethe’s tiefem Wort „Wahrheit und Dichtung“ — Geiſt und Erſcheinung. Was mich oft und bitter verdrießen kann, iſt, die Leute über das elende Leben hier klagen, und die Welt ein Jammerthal nennen zu hören. Dies iſt nicht nur die himmelſchreiendſte Undankbarkeit (menſch- lich geſprochen) ſondern auch die wahre Sünde gegen den heiligen Geiſt. Iſt nicht offenbar Genuß und Wohlſeyn durch die ganze Welt der poſitive Normal- Zuſtand, Leiden, Böſes, Verkrüppeltes nur die nega- tive Schattenſeite? Iſt nicht das Leben ein ewiges Feſt für das geſunde Auge, im Anſchauen deſſen und ſeiner Herrlichkeit, man anbetend ſelig werden kann! Und wäre es nur der tägliche Anblick der Sonne und der mächtigen Sterne Glanz, der Bäume Grünen und Blüthen, und der tauſend Blumen Schmelz, der Vögel Jubelgeſang und aller Geſchöpfe üppige Fülle und reiche Sinnenluſt — es wäre ſchon viel, um ſich des Lebens zu freuen — aber welches mehr wunder-

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/244>, abgerufen am 25.11.2024.