aber sage ich: An die reine Lehre will ich mich halten, die meine Vernunft verehren kann, den un- poetischen Mährchenwust aber, sowie alle Entstellun- gen damaliger Zeit, und noch mehr das blutige und gehässige Heidenthum der Nachfolger, will ich den Muth haben wegzuwerfen, wenn es auch 200,000,000 auf fremde Autorität wirklich im Innersten für hei- lig annähmen. Aus demselben Prinzip handelte Lu- ther, als er den ersten Schritt der Reform that, aber das Licht, das er damals gereinigt, bedarf wahrlich des Putzens von neuem gar sehr, und Ehre dem Manne der Kirche, der groß genug seyn wird, zu diesem Amte sich berufen zu fühlen, und es ohne Rücksicht und Menschenfurcht auszuführen, wenn gleich viel Zeter über ihn geschrieen werden wird, denn daß er nichts anders erwarten darf, das lehrt ihm zu deutlich die Geschichte. Waren es nicht im- mer grade die Wenigen nur, die das Bessere und Wahre anerkannten, und die sie verfolgten die Menge? war es etwa die fanatische Heerde, die Sokrates den Giftbecher reichte, oder die, welche Christus kreuzigte, oder die welche Huß verbrannte, auf deren Seite die Wahrheit stand? Nein, erst nach Jahrhunderten nahm diese Menge selbst der Geopferten Meinung an, und versteinerte sich von Neuem eben so ortho- dox für dieselbe als früher dagegen. Das reli- gieuse Bedürfniß ist gewiß eins der stärksten im Men- schen, besonders wo noch Gesetze und Institutionen in der Kindheit sind. Wer es sich daher selbst nicht gestalten kann, muß die Form von andern entneh-
aber ſage ich: An die reine Lehre will ich mich halten, die meine Vernunft verehren kann, den un- poetiſchen Mährchenwuſt aber, ſowie alle Entſtellun- gen damaliger Zeit, und noch mehr das blutige und gehäſſige Heidenthum der Nachfolger, will ich den Muth haben wegzuwerfen, wenn es auch 200,000,000 auf fremde Autorität wirklich im Innerſten für hei- lig annähmen. Aus demſelben Prinzip handelte Lu- ther, als er den erſten Schritt der Reform that, aber das Licht, das er damals gereinigt, bedarf wahrlich des Putzens von neuem gar ſehr, und Ehre dem Manne der Kirche, der groß genug ſeyn wird, zu dieſem Amte ſich berufen zu fühlen, und es ohne Rückſicht und Menſchenfurcht auszuführen, wenn gleich viel Zeter über ihn geſchrieen werden wird, denn daß er nichts anders erwarten darf, das lehrt ihm zu deutlich die Geſchichte. Waren es nicht im- mer grade die Wenigen nur, die das Beſſere und Wahre anerkannten, und die ſie verfolgten die Menge? war es etwa die fanatiſche Heerde, die Sokrates den Giftbecher reichte, oder die, welche Chriſtus kreuzigte, oder die welche Huß verbrannte, auf deren Seite die Wahrheit ſtand? Nein, erſt nach Jahrhunderten nahm dieſe Menge ſelbſt der Geopferten Meinung an, und verſteinerte ſich von Neuem eben ſo ortho- dox für dieſelbe als früher dagegen. Das reli- gieuſe Bedürfniß iſt gewiß eins der ſtärkſten im Men- ſchen, beſonders wo noch Geſetze und Inſtitutionen in der Kindheit ſind. Wer es ſich daher ſelbſt nicht geſtalten kann, muß die Form von andern entneh-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0216"n="194"/>
aber ſage ich: An die <hirendition="#g">reine Lehre</hi> will ich mich<lb/>
halten, die meine Vernunft verehren kann, den un-<lb/>
poetiſchen Mährchenwuſt aber, ſowie alle Entſtellun-<lb/>
gen damaliger Zeit, und noch mehr das blutige und<lb/>
gehäſſige Heidenthum der Nachfolger, will ich den<lb/>
Muth haben wegzuwerfen, wenn es auch 200,000,000<lb/>
auf fremde Autorität wirklich im Innerſten für hei-<lb/>
lig annähmen. Aus demſelben Prinzip handelte Lu-<lb/>
ther, als er den erſten Schritt der Reform that, aber<lb/>
das Licht, das er damals gereinigt, bedarf wahrlich<lb/><hirendition="#g">des Putzens von neuem gar ſehr,</hi> und Ehre<lb/>
dem Manne der Kirche, der groß genug ſeyn wird,<lb/>
zu dieſem Amte ſich berufen zu fühlen, und es ohne<lb/>
Rückſicht und Menſchenfurcht auszuführen, wenn<lb/>
gleich viel Zeter über ihn geſchrieen werden wird,<lb/>
denn daß er nichts anders erwarten darf, das lehrt<lb/>
ihm zu deutlich die Geſchichte. Waren es nicht im-<lb/>
mer grade die Wenigen nur, die das Beſſere und<lb/>
Wahre anerkannten, und die ſie verfolgten die Menge?<lb/>
war es etwa die fanatiſche Heerde, die Sokrates den<lb/>
Giftbecher reichte, oder die, welche Chriſtus kreuzigte,<lb/>
oder die welche Huß verbrannte, auf deren Seite die<lb/>
Wahrheit ſtand? Nein, erſt nach Jahrhunderten<lb/>
nahm dieſe Menge ſelbſt der Geopferten Meinung<lb/>
an, und verſteinerte ſich von Neuem eben ſo ortho-<lb/>
dox <hirendition="#g">für</hi> dieſelbe als früher <hirendition="#g">dagegen</hi>. Das reli-<lb/>
gieuſe Bedürfniß iſt gewiß eins der ſtärkſten im Men-<lb/>ſchen, beſonders wo noch Geſetze und Inſtitutionen<lb/>
in der Kindheit ſind. Wer es ſich daher ſelbſt nicht<lb/>
geſtalten kann, muß <hirendition="#g">die Form</hi> von andern entneh-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[194/0216]
aber ſage ich: An die reine Lehre will ich mich
halten, die meine Vernunft verehren kann, den un-
poetiſchen Mährchenwuſt aber, ſowie alle Entſtellun-
gen damaliger Zeit, und noch mehr das blutige und
gehäſſige Heidenthum der Nachfolger, will ich den
Muth haben wegzuwerfen, wenn es auch 200,000,000
auf fremde Autorität wirklich im Innerſten für hei-
lig annähmen. Aus demſelben Prinzip handelte Lu-
ther, als er den erſten Schritt der Reform that, aber
das Licht, das er damals gereinigt, bedarf wahrlich
des Putzens von neuem gar ſehr, und Ehre
dem Manne der Kirche, der groß genug ſeyn wird,
zu dieſem Amte ſich berufen zu fühlen, und es ohne
Rückſicht und Menſchenfurcht auszuführen, wenn
gleich viel Zeter über ihn geſchrieen werden wird,
denn daß er nichts anders erwarten darf, das lehrt
ihm zu deutlich die Geſchichte. Waren es nicht im-
mer grade die Wenigen nur, die das Beſſere und
Wahre anerkannten, und die ſie verfolgten die Menge?
war es etwa die fanatiſche Heerde, die Sokrates den
Giftbecher reichte, oder die, welche Chriſtus kreuzigte,
oder die welche Huß verbrannte, auf deren Seite die
Wahrheit ſtand? Nein, erſt nach Jahrhunderten
nahm dieſe Menge ſelbſt der Geopferten Meinung
an, und verſteinerte ſich von Neuem eben ſo ortho-
dox für dieſelbe als früher dagegen. Das reli-
gieuſe Bedürfniß iſt gewiß eins der ſtärkſten im Men-
ſchen, beſonders wo noch Geſetze und Inſtitutionen
in der Kindheit ſind. Wer es ſich daher ſelbſt nicht
geſtalten kann, muß die Form von andern entneh-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/216>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.