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Polenz, Wilhelm von: Der Büttnerbauer. Berlin, 1895.

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zwischen Herr und Knecht. Die Maschine besorgte vieles,
wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbesitzer
stand kaum noch in einem persönlichen Verhältnis zu seinem
Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war
mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen;
vom wirklichen Ackerbau verstand er vielleicht gar nichts. Die
Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬
amten bewacht wurden. Der Grundbesitzer schien hier kaum
noch eine Person; hinter ihm standen andere Mächte: die
Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwischen den Besitzer und
sein Stück Erde traten.

Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Gustav
Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häschke auf
der Walze gewesen. Da hatte er den fünften Stand kennen
gelernt, das unheimliche Heer der Obdachlosen, der Aus¬
gestoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬
sellschaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬
artige Welt hatte er da geblickt. Diese Menschenklasse, auf die
der Bauernsohn als auf Landstreicher und Verbrecher herab¬
geblickt hatte, waren eine Zunft für sich, besaßen ihre eigene
Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre sogar.

Und wo stammten die meisten von ihnen her? Von
bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege gewesen.
Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutschen
Bauern die Freiheit schenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß
die Enkel des seßhaftesten Standes nach wenigen Generationen
die Landstraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit
war für viele das gewesen, was ein starker Luftzug für einen
schwächlichen Körper ist. Freiheit hatten diese Unglücklichen
nur allzuviel; sie waren vogelfrei. Losgerissenen Blättern
glichen sie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬
stücke der modernen Gesellschaft! Treibendes Holz auf den
Wogen des Wirtschaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem
Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu
treiben.

Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand

zwiſchen Herr und Knecht. Die Maſchine beſorgte vieles,
wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbeſitzer
ſtand kaum noch in einem perſönlichen Verhältnis zu ſeinem
Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war
mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen;
vom wirklichen Ackerbau verſtand er vielleicht gar nichts. Die
Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬
amten bewacht wurden. Der Grundbeſitzer ſchien hier kaum
noch eine Perſon; hinter ihm ſtanden andere Mächte: die
Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwiſchen den Beſitzer und
ſein Stück Erde traten.

Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Guſtav
Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häſchke auf
der Walze geweſen. Da hatte er den fünften Stand kennen
gelernt, das unheimliche Heer der Obdachloſen, der Aus¬
geſtoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬
ſellſchaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬
artige Welt hatte er da geblickt. Dieſe Menſchenklaſſe, auf die
der Bauernſohn als auf Landſtreicher und Verbrecher herab¬
geblickt hatte, waren eine Zunft für ſich, beſaßen ihre eigene
Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre ſogar.

Und wo ſtammten die meiſten von ihnen her? Von
bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege geweſen.
Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutſchen
Bauern die Freiheit ſchenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß
die Enkel des ſeßhafteſten Standes nach wenigen Generationen
die Landſtraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit
war für viele das geweſen, was ein ſtarker Luftzug für einen
ſchwächlichen Körper iſt. Freiheit hatten dieſe Unglücklichen
nur allzuviel; ſie waren vogelfrei. Losgeriſſenen Blättern
glichen ſie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬
ſtücke der modernen Geſellſchaft! Treibendes Holz auf den
Wogen des Wirtſchaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem
Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu
treiben.

Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand

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[362/0376] zwiſchen Herr und Knecht. Die Maſchine beſorgte vieles, wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbeſitzer ſtand kaum noch in einem perſönlichen Verhältnis zu ſeinem Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen; vom wirklichen Ackerbau verſtand er vielleicht gar nichts. Die Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬ amten bewacht wurden. Der Grundbeſitzer ſchien hier kaum noch eine Perſon; hinter ihm ſtanden andere Mächte: die Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwiſchen den Beſitzer und ſein Stück Erde traten. Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Guſtav Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häſchke auf der Walze geweſen. Da hatte er den fünften Stand kennen gelernt, das unheimliche Heer der Obdachloſen, der Aus¬ geſtoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬ ſellſchaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬ artige Welt hatte er da geblickt. Dieſe Menſchenklaſſe, auf die der Bauernſohn als auf Landſtreicher und Verbrecher herab¬ geblickt hatte, waren eine Zunft für ſich, beſaßen ihre eigene Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre ſogar. Und wo ſtammten die meiſten von ihnen her? Von bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege geweſen. Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutſchen Bauern die Freiheit ſchenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß die Enkel des ſeßhafteſten Standes nach wenigen Generationen die Landſtraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit war für viele das geweſen, was ein ſtarker Luftzug für einen ſchwächlichen Körper iſt. Freiheit hatten dieſe Unglücklichen nur allzuviel; ſie waren vogelfrei. Losgeriſſenen Blättern glichen ſie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬ ſtücke der modernen Geſellſchaft! Treibendes Holz auf den Wogen des Wirtſchaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu treiben. Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand

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Zitationshilfe: Polenz, Wilhelm von: Der Büttnerbauer. Berlin, 1895, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/polenz_buettnerbauer_1895/376>, abgerufen am 24.11.2024.