War vielleicht jenes große Ereignis der Bauernbefreiung im Anfange des Jahrhunderts, dessen Zeuge noch Leberecht Büttner als junger Mensch gewesen, zu spät eingetreten? War dieser mächtige Ruck nach vorwärts nicht mehr im Stande ge¬ wesen, das Bauernvolk aus der Jahrhunderte alten Gewöhnung an Unselbständigkeit und Knechtsseeligkeit herauszureißen? Oder war die Aufhebung der Frone zu schnell, zu unmittelbar gekommen? Hatte sie den Bauern nur äußerlich selbständig gemacht, ohne ihm die zum Genusse der Freiheit nötige Er¬ leuchtung und Vernunft gleichzeitig geben zu können? Waren die, durch viele Geschlechter großgezogenen Laster: des Mi߬ trauens, der Stumpfheit, der Beschränktheit und der tierischen Rohheit, doch so tief in Fleisch und Blut der Kaste übergegangen, daß sie unausrottbar immer von neuem durchbrechen mußten, und so den Untergang des ganzen Standes herbeiführen würden? --
Oder spannen sich die Fäden jenes Gewebes von Unrecht, Irrtum und Unglück, die den einzelnen mit dem Ganzen eben¬ sogut verweben, wie Rüstigkeit, Aufschwung und Gedeihen eines Volkes segensreich das Einzelgeschick befruchten und fördern -- reichten diese unsichtbaren Wurzeln, die uns mit dem tiefsten Grunde der Vergangenheit unseres Geschlechts ver¬ binden, nicht noch viel viel tiefer hinab in die Vorzeit? War der große Krieg daran schuld, der das deutsche Volk zum Bettelmann gemacht, und seinen Boden zu einer Einöde? Aber, war nicht schon vor dem großen Kriege schweres Unrecht am deutschen Bauern begangen worden? Drangsal und Verge¬ waltigung, die ihm zu Luthers Zeiten den Kolben und den Dreschflegel in die Hand nehmen ließen, zum Aufruhr gegen die Großen der Welt, in denen er die Macht verkörpert sah, die ihn am meisten bedrückte: der Feudalismus.
Und lag der letzte und tiefste Grund der Unbilden, die dem Bauern durch alle Stände widerfahren, mochten sie sich Fürsten, Ritterschaft, Geistlichkeit, Kaufmanns- Richter- und Gelehrtenstand nennen, nicht noch viel weiter zurück in der Entwickelung? War da nicht in unser Volksleben ein Feind
War vielleicht jenes große Ereignis der Bauernbefreiung im Anfange des Jahrhunderts, deſſen Zeuge noch Leberecht Büttner als junger Menſch geweſen, zu ſpät eingetreten? War dieſer mächtige Ruck nach vorwärts nicht mehr im Stande ge¬ weſen, das Bauernvolk aus der Jahrhunderte alten Gewöhnung an Unſelbſtändigkeit und Knechtsſeeligkeit herauszureißen? Oder war die Aufhebung der Frone zu ſchnell, zu unmittelbar gekommen? Hatte ſie den Bauern nur äußerlich ſelbſtändig gemacht, ohne ihm die zum Genuſſe der Freiheit nötige Er¬ leuchtung und Vernunft gleichzeitig geben zu können? Waren die, durch viele Geſchlechter großgezogenen Laſter: des Mi߬ trauens, der Stumpfheit, der Beſchränktheit und der tieriſchen Rohheit, doch ſo tief in Fleiſch und Blut der Kaſte übergegangen, daß ſie unausrottbar immer von neuem durchbrechen mußten, und ſo den Untergang des ganzen Standes herbeiführen würden? —
Oder ſpannen ſich die Fäden jenes Gewebes von Unrecht, Irrtum und Unglück, die den einzelnen mit dem Ganzen eben¬ ſogut verweben, wie Rüſtigkeit, Aufſchwung und Gedeihen eines Volkes ſegensreich das Einzelgeſchick befruchten und fördern — reichten dieſe unſichtbaren Wurzeln, die uns mit dem tiefſten Grunde der Vergangenheit unſeres Geſchlechts ver¬ binden, nicht noch viel viel tiefer hinab in die Vorzeit? War der große Krieg daran ſchuld, der das deutſche Volk zum Bettelmann gemacht, und ſeinen Boden zu einer Einöde? Aber, war nicht ſchon vor dem großen Kriege ſchweres Unrecht am deutſchen Bauern begangen worden? Drangſal und Verge¬ waltigung, die ihm zu Luthers Zeiten den Kolben und den Dreſchflegel in die Hand nehmen ließen, zum Aufruhr gegen die Großen der Welt, in denen er die Macht verkörpert ſah, die ihn am meiſten bedrückte: der Feudalismus.
Und lag der letzte und tiefſte Grund der Unbilden, die dem Bauern durch alle Stände widerfahren, mochten ſie ſich Fürſten, Ritterſchaft, Geiſtlichkeit, Kaufmanns- Richter- und Gelehrtenſtand nennen, nicht noch viel weiter zurück in der Entwickelung? War da nicht in unſer Volksleben ein Feind
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War vielleicht jenes große Ereignis der Bauernbefreiung
im Anfange des Jahrhunderts, deſſen Zeuge noch Leberecht
Büttner als junger Menſch geweſen, zu ſpät eingetreten? War
dieſer mächtige Ruck nach vorwärts nicht mehr im Stande ge¬
weſen, das Bauernvolk aus der Jahrhunderte alten Gewöhnung
an Unſelbſtändigkeit und Knechtsſeeligkeit herauszureißen?
Oder war die Aufhebung der Frone zu ſchnell, zu unmittelbar
gekommen? Hatte ſie den Bauern nur äußerlich ſelbſtändig
gemacht, ohne ihm die zum Genuſſe der Freiheit nötige Er¬
leuchtung und Vernunft gleichzeitig geben zu können? Waren
die, durch viele Geſchlechter großgezogenen Laſter: des Mi߬
trauens, der Stumpfheit, der Beſchränktheit und der tieriſchen
Rohheit, doch ſo tief in Fleiſch und Blut der Kaſte übergegangen,
daß ſie unausrottbar immer von neuem durchbrechen mußten,
und ſo den Untergang des ganzen Standes herbeiführen
würden? —
Oder ſpannen ſich die Fäden jenes Gewebes von Unrecht,
Irrtum und Unglück, die den einzelnen mit dem Ganzen eben¬
ſogut verweben, wie Rüſtigkeit, Aufſchwung und Gedeihen
eines Volkes ſegensreich das Einzelgeſchick befruchten und
fördern — reichten dieſe unſichtbaren Wurzeln, die uns mit
dem tiefſten Grunde der Vergangenheit unſeres Geſchlechts ver¬
binden, nicht noch viel viel tiefer hinab in die Vorzeit? War
der große Krieg daran ſchuld, der das deutſche Volk zum
Bettelmann gemacht, und ſeinen Boden zu einer Einöde? Aber,
war nicht ſchon vor dem großen Kriege ſchweres Unrecht am
deutſchen Bauern begangen worden? Drangſal und Verge¬
waltigung, die ihm zu Luthers Zeiten den Kolben und den
Dreſchflegel in die Hand nehmen ließen, zum Aufruhr gegen
die Großen der Welt, in denen er die Macht verkörpert ſah,
die ihn am meiſten bedrückte: der Feudalismus.
Und lag der letzte und tiefſte Grund der Unbilden, die
dem Bauern durch alle Stände widerfahren, mochten ſie ſich
Fürſten, Ritterſchaft, Geiſtlichkeit, Kaufmanns- Richter- und
Gelehrtenſtand nennen, nicht noch viel weiter zurück in der
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Polenz, Wilhelm von: Der Büttnerbauer. Berlin, 1895, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/polenz_buettnerbauer_1895/290>, abgerufen am 23.11.2024.
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