Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

ppo_374.001
verblindet, und im Solde der Laster schwelgt; wenn ppo_374.002
die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, ppo_374.003
und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet; ppo_374.004
dann übernimmt die Schaubühne Schwert und ppo_374.005
Wage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen ppo_374.006
Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und ppo_374.007
Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem ppo_374.008
Winke zu Gebote. Kühne Verbrecher, die längst ppo_374.009
schon im Staube vermodern, werden durch den allmächtigen ppo_374.010
Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und ppo_374.011
wiederhohlen zum schauervollen Unterrichte der Nachwelt ppo_374.012
ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den ppo_374.013
Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ppo_374.014
ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, ppo_374.015
und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr ppo_374.016
Gedächtniß. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird; ppo_374.017
keine Religion mehr Glauben findet; wenn kein Gesetz ppo_374.018
mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch ppo_374.019
anschauern, wenn sie die Treppen des Pallastes herunter ppo_374.020
wankt, und der Kindermord geschehen ist. ppo_374.021
Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, ppo_374.022
und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen ppo_374.023
preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche ppo_374.024
Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche ppo_374.025
Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch ppo_374.026
zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung ppo_374.027
mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung; ppo_374.028
so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und ppo_374.029
dauernder, als Moral und Gesetze. -- Aber der ppo_374.030
Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter ppo_374.031
aus. Auch da, wo Religion und Gesetze es unter ppo_374.032
ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten, ppo_374.033
ist sie für unsre Bildung noch geschäftig. ppo_374.034
Sie ist es, die der großen Klasse von Thoren den

ppo_374.001
verblindet, und im Solde der Laster schwelgt; wenn ppo_374.002
die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, ppo_374.003
und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet; ppo_374.004
dann übernimmt die Schaubühne Schwert und ppo_374.005
Wage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen ppo_374.006
Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und ppo_374.007
Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem ppo_374.008
Winke zu Gebote. Kühne Verbrecher, die längst ppo_374.009
schon im Staube vermodern, werden durch den allmächtigen ppo_374.010
Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und ppo_374.011
wiederhohlen zum schauervollen Unterrichte der Nachwelt ppo_374.012
ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den ppo_374.013
Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ppo_374.014
ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, ppo_374.015
und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr ppo_374.016
Gedächtniß. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird; ppo_374.017
keine Religion mehr Glauben findet; wenn kein Gesetz ppo_374.018
mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch ppo_374.019
anschauern, wenn sie die Treppen des Pallastes herunter ppo_374.020
wankt, und der Kindermord geschehen ist. ppo_374.021
Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, ppo_374.022
und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen ppo_374.023
preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche ppo_374.024
Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche ppo_374.025
Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch ppo_374.026
zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung ppo_374.027
mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung; ppo_374.028
so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und ppo_374.029
dauernder, als Moral und Gesetze. — Aber der ppo_374.030
Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter ppo_374.031
aus. Auch da, wo Religion und Gesetze es unter ppo_374.032
ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten, ppo_374.033
ist sie für unsre Bildung noch geschäftig. ppo_374.034
Sie ist es, die der großen Klasse von Thoren den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0386" n="374"/><lb n="ppo_374.001"/>verblindet, und im Solde der Laster schwelgt; wenn <lb n="ppo_374.002"/>die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, <lb n="ppo_374.003"/>und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet; <lb n="ppo_374.004"/>dann übernimmt die Schaubühne Schwert und <lb n="ppo_374.005"/>Wage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen <lb n="ppo_374.006"/>Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und <lb n="ppo_374.007"/>Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem <lb n="ppo_374.008"/>Winke zu Gebote. Kühne Verbrecher, die längst <lb n="ppo_374.009"/>schon im Staube vermodern, werden durch den allmächtigen <lb n="ppo_374.010"/>Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und <lb n="ppo_374.011"/>wiederhohlen zum schauervollen Unterrichte der Nachwelt <lb n="ppo_374.012"/>ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den <lb n="ppo_374.013"/>Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken <lb n="ppo_374.014"/>ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, <lb n="ppo_374.015"/>und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr <lb n="ppo_374.016"/>Gedächtniß. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird; <lb n="ppo_374.017"/>keine Religion mehr Glauben findet; wenn kein Gesetz <lb n="ppo_374.018"/>mehr vorhanden ist, wird uns <hi rendition="#g">Medea</hi> noch <lb n="ppo_374.019"/>anschauern, wenn sie die Treppen des Pallastes herunter <lb n="ppo_374.020"/>wankt, und der Kindermord geschehen ist. <lb n="ppo_374.021"/>Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, <lb n="ppo_374.022"/>und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen <lb n="ppo_374.023"/>preisen, wenn <hi rendition="#g">Lady Macbeth,</hi> eine schreckliche <lb n="ppo_374.024"/>Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche <lb n="ppo_374.025"/>Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch <lb n="ppo_374.026"/>zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung <lb n="ppo_374.027"/>mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung; <lb n="ppo_374.028"/>so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und <lb n="ppo_374.029"/>dauernder, als Moral und Gesetze. &#x2014; Aber der <lb n="ppo_374.030"/>Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter <lb n="ppo_374.031"/>aus. Auch da, wo Religion und Gesetze es unter <lb n="ppo_374.032"/>ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten, <lb n="ppo_374.033"/>ist <hi rendition="#g">sie</hi> für unsre Bildung noch geschäftig. <lb n="ppo_374.034"/>Sie ist es, die der großen Klasse von Thoren den
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[374/0386] ppo_374.001 verblindet, und im Solde der Laster schwelgt; wenn ppo_374.002 die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, ppo_374.003 und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet; ppo_374.004 dann übernimmt die Schaubühne Schwert und ppo_374.005 Wage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen ppo_374.006 Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und ppo_374.007 Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem ppo_374.008 Winke zu Gebote. Kühne Verbrecher, die längst ppo_374.009 schon im Staube vermodern, werden durch den allmächtigen ppo_374.010 Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und ppo_374.011 wiederhohlen zum schauervollen Unterrichte der Nachwelt ppo_374.012 ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den ppo_374.013 Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ppo_374.014 ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, ppo_374.015 und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr ppo_374.016 Gedächtniß. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird; ppo_374.017 keine Religion mehr Glauben findet; wenn kein Gesetz ppo_374.018 mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch ppo_374.019 anschauern, wenn sie die Treppen des Pallastes herunter ppo_374.020 wankt, und der Kindermord geschehen ist. ppo_374.021 Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, ppo_374.022 und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen ppo_374.023 preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche ppo_374.024 Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche ppo_374.025 Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch ppo_374.026 zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung ppo_374.027 mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung; ppo_374.028 so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und ppo_374.029 dauernder, als Moral und Gesetze. — Aber der ppo_374.030 Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter ppo_374.031 aus. Auch da, wo Religion und Gesetze es unter ppo_374.032 ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten, ppo_374.033 ist sie für unsre Bildung noch geschäftig. ppo_374.034 Sie ist es, die der großen Klasse von Thoren den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/386
Zitationshilfe: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/386>, abgerufen am 24.11.2024.