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Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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ausschreiben. Uebrigens wird im Achenthal kein Judas den Sündenlohn verdienen. Tröste dich, Burgl, ich bin ja ohnehin vogelfrei, was liegt daran?

Das Mädchen wischte die Augen mit der Schürze und wurde, weil sich Klaus aus der Sache nichts machte, wieder ruhig. Sie übergab ihm einige Dinge, von denen sie meinte, er brauche dieselben in seinem dürftigen Haushalte, auch das Bildchen mit den armen Seelen erhielt er zu seinem Troste.

Nach kurzem Gespräche, denn der ängstliche Greis, welchen das Rauschen eines jeden Blättchens erschreckte, gestattete nicht Mehr, kehrte Klaus in die Einsamkeit zurück. Beim Emporsteigen hörte er aus den Lüften ein unheimliches Rauschen, über das Sonnenwendjoch legte sich ein feiner Wolkenstreif, hie und da flog ein Schwarm abgefallenen Laubes wirbelnd in die Höhe. Es war der Scirocco. Ueber Nacht schwoll er so mächtig an, daß Klaus bei dem Geheul um die Felszacken ängstlich auffuhr und horchte. Er wußte, was es zu bedeuten hatte: der Südsturm bringt dem Gebirg meistens Schnee; wenn sein Gluthauch ausathmet, braus't der Nord heran und verdichtet die Wasserdünste zu heftigem Gestöber.

Im Thal war mit dem Scirocco ein anderer Gast eingetroffen. Naz hatte, nach dem Friedensschluß mit Oesterreich, welches Tirol seinem Schicksal überließ, Urlaub erlangt, er brachte für seine Heldenthaten an der Glashütte und bei der Brücke die goldene Medaille

ausschreiben. Uebrigens wird im Achenthal kein Judas den Sündenlohn verdienen. Tröste dich, Burgl, ich bin ja ohnehin vogelfrei, was liegt daran?

Das Mädchen wischte die Augen mit der Schürze und wurde, weil sich Klaus aus der Sache nichts machte, wieder ruhig. Sie übergab ihm einige Dinge, von denen sie meinte, er brauche dieselben in seinem dürftigen Haushalte, auch das Bildchen mit den armen Seelen erhielt er zu seinem Troste.

Nach kurzem Gespräche, denn der ängstliche Greis, welchen das Rauschen eines jeden Blättchens erschreckte, gestattete nicht Mehr, kehrte Klaus in die Einsamkeit zurück. Beim Emporsteigen hörte er aus den Lüften ein unheimliches Rauschen, über das Sonnenwendjoch legte sich ein feiner Wolkenstreif, hie und da flog ein Schwarm abgefallenen Laubes wirbelnd in die Höhe. Es war der Scirocco. Ueber Nacht schwoll er so mächtig an, daß Klaus bei dem Geheul um die Felszacken ängstlich auffuhr und horchte. Er wußte, was es zu bedeuten hatte: der Südsturm bringt dem Gebirg meistens Schnee; wenn sein Gluthauch ausathmet, braus't der Nord heran und verdichtet die Wasserdünste zu heftigem Gestöber.

Im Thal war mit dem Scirocco ein anderer Gast eingetroffen. Naz hatte, nach dem Friedensschluß mit Oesterreich, welches Tirol seinem Schicksal überließ, Urlaub erlangt, er brachte für seine Heldenthaten an der Glashütte und bei der Brücke die goldene Medaille

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[0058] ausschreiben. Uebrigens wird im Achenthal kein Judas den Sündenlohn verdienen. Tröste dich, Burgl, ich bin ja ohnehin vogelfrei, was liegt daran? Das Mädchen wischte die Augen mit der Schürze und wurde, weil sich Klaus aus der Sache nichts machte, wieder ruhig. Sie übergab ihm einige Dinge, von denen sie meinte, er brauche dieselben in seinem dürftigen Haushalte, auch das Bildchen mit den armen Seelen erhielt er zu seinem Troste. Nach kurzem Gespräche, denn der ängstliche Greis, welchen das Rauschen eines jeden Blättchens erschreckte, gestattete nicht Mehr, kehrte Klaus in die Einsamkeit zurück. Beim Emporsteigen hörte er aus den Lüften ein unheimliches Rauschen, über das Sonnenwendjoch legte sich ein feiner Wolkenstreif, hie und da flog ein Schwarm abgefallenen Laubes wirbelnd in die Höhe. Es war der Scirocco. Ueber Nacht schwoll er so mächtig an, daß Klaus bei dem Geheul um die Felszacken ängstlich auffuhr und horchte. Er wußte, was es zu bedeuten hatte: der Südsturm bringt dem Gebirg meistens Schnee; wenn sein Gluthauch ausathmet, braus't der Nord heran und verdichtet die Wasserdünste zu heftigem Gestöber. Im Thal war mit dem Scirocco ein anderer Gast eingetroffen. Naz hatte, nach dem Friedensschluß mit Oesterreich, welches Tirol seinem Schicksal überließ, Urlaub erlangt, er brachte für seine Heldenthaten an der Glashütte und bei der Brücke die goldene Medaille

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-23T13:06:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-23T13:06:45Z)

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Zitationshilfe: Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910/58>, abgerufen am 22.11.2024.