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Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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gar nicht einmal in den Friedhof, so gern er seinen besten Freunden in der Noth, den armen Seelen, ein Vaterunser gebetet hätte. So gelangte er vorsichtig von Baum zu Baum vor Nidinger's Haus. Er legte das Ohr an die Thür, nichts regte sich. An der hintern Mauer hing eine kleine Leiter, er holte sie und lehnte sie, nachdem er vorher Stutzen und Schnappsack unter der Bank verborgen und die schweren Schuhe abgezogen, an das Geländer des Söllers. Rasch stieg er empor und lauschte wieder am Fenster Walburg's; es war nur von einem Vorhange, der sich leise im Winde regte, verschlossen, er hörte die ruhigen Athemzüge der Schlummernden. Burgl! rief er -- sie regte sich. Burgl! Langsam fuhr sie mit der Hand über Stirn und Augen und richtete sich auf, ungewiß ob sie ein Traum täusche oder wirklich Jemand sie anrede. Burgl! Er war's, sie stürzte aus dem Bett an das Fenster, ein inniger Kuß verschmolz die Langgetrennten. Da fiel ein Mondstrahl durch einen Wolkenriß auf den Söller und streifte ihre weiße Schulter -- sie fuhr auf und sprang mit einem leisen Schrei in den Schatten des Zimmers zurück; erst jetzt dachte sie daran, daß sie nur ein Hemdchen auf dem Leibe trug. Er flüsterte: Weck den Vater, Burgele! wir haben noch gar viel miteinander auszumachen. Das Mädchen warf in der Eile einige Kleider um und holte den Alten. Er sperrte die Thüre des Söllers auf und begrüßte den Eintretenden mit einem Händedruck. Ohne ein Wort

gar nicht einmal in den Friedhof, so gern er seinen besten Freunden in der Noth, den armen Seelen, ein Vaterunser gebetet hätte. So gelangte er vorsichtig von Baum zu Baum vor Nidinger's Haus. Er legte das Ohr an die Thür, nichts regte sich. An der hintern Mauer hing eine kleine Leiter, er holte sie und lehnte sie, nachdem er vorher Stutzen und Schnappsack unter der Bank verborgen und die schweren Schuhe abgezogen, an das Geländer des Söllers. Rasch stieg er empor und lauschte wieder am Fenster Walburg's; es war nur von einem Vorhange, der sich leise im Winde regte, verschlossen, er hörte die ruhigen Athemzüge der Schlummernden. Burgl! rief er — sie regte sich. Burgl! Langsam fuhr sie mit der Hand über Stirn und Augen und richtete sich auf, ungewiß ob sie ein Traum täusche oder wirklich Jemand sie anrede. Burgl! Er war's, sie stürzte aus dem Bett an das Fenster, ein inniger Kuß verschmolz die Langgetrennten. Da fiel ein Mondstrahl durch einen Wolkenriß auf den Söller und streifte ihre weiße Schulter — sie fuhr auf und sprang mit einem leisen Schrei in den Schatten des Zimmers zurück; erst jetzt dachte sie daran, daß sie nur ein Hemdchen auf dem Leibe trug. Er flüsterte: Weck den Vater, Burgele! wir haben noch gar viel miteinander auszumachen. Das Mädchen warf in der Eile einige Kleider um und holte den Alten. Er sperrte die Thüre des Söllers auf und begrüßte den Eintretenden mit einem Händedruck. Ohne ein Wort

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-23T13:06:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910/50>, abgerufen am 24.11.2024.