Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite
vom gesunden Witze, etc.
CIX. Wie es mehr Reizung erwecket, wenn
eine wahrhafte Schönheit nur ihr Angesicht,
Hände und Busen sehen lässet, die übrigen Glied-
maßen aber verdecket: Also ist bey dem erhabe-
nen
Geschmacke auch etwas verdecktes, das
der andere durch scharfes Nachsinnen erst heraus-
bringet, und diese versteckte Schönheit machet
den Vortrag desto durchdringender und herz-
rührender.
CX. So wenig eine züchtige Schöne sich
vor jedermann ganz entblößen, noch sich völlig
nackend zeigen wird: So wenig wird einer, der
einen hohen Geschmack besitzet, solchen lieder-
lich verschwenden, und bey Dingen, die, ihrer
Natur nach, niedrig sind, sich nicht die Mühe
nehmen, erhabens Gedanken anzubringen.
CXI. Es ist keine Nation, die den hohen
Geschmack für sich allein gepachtet hätte; auch
ist kein Volk so barbarisch, daß es nicht unter
solchem etliche geben sollte, die einen fürtrefflichen
bon sens besitzen.
CXII. Doch pfleget man eine Nation dar-
nach zu benennen, nachdem die meisten Köpfe
entweder munter, aufgeweckt, lebhaft, feurig,
und von hohem Witze sind; oder aber, wenn
die meisten träge, langsam, stumpf, matt, und
nur von gemeinem Witze sich befinden.
CXIII. So sagt man daher, daß der Fran-
zose
einen lebhaftern Geschmack habe, als ein
Spanier. Der Engländer hat eine natürliche
Neigung zum hohen Geschmacke. Der Jta-
liäner
O 3
vom geſunden Witze, ꝛc.
CIX. Wie es mehr Reizung erwecket, wenn
eine wahrhafte Schoͤnheit nur ihr Angeſicht,
Haͤnde und Buſen ſehen laͤſſet, die uͤbrigen Glied-
maßen aber verdecket: Alſo iſt bey dem erhabe-
nen
Geſchmacke auch etwas verdecktes, das
der andere durch ſcharfes Nachſinnen erſt heraus-
bringet, und dieſe verſteckte Schoͤnheit machet
den Vortrag deſto durchdringender und herz-
ruͤhrender.
CX. So wenig eine zuͤchtige Schoͤne ſich
vor jedermann ganz entbloͤßen, noch ſich voͤllig
nackend zeigen wird: So wenig wird einer, der
einen hohen Geſchmack beſitzet, ſolchen lieder-
lich verſchwenden, und bey Dingen, die, ihrer
Natur nach, niedrig ſind, ſich nicht die Muͤhe
nehmen, erhabens Gedanken anzubringen.
CXI. Es iſt keine Nation, die den hohen
Geſchmack fuͤr ſich allein gepachtet haͤtte; auch
iſt kein Volk ſo barbariſch, daß es nicht unter
ſolchem etliche geben ſollte, die einen fuͤrtrefflichen
bon ſens beſitzen.
CXII. Doch pfleget man eine Nation dar-
nach zu benennen, nachdem die meiſten Koͤpfe
entweder munter, aufgeweckt, lebhaft, feurig,
und von hohem Witze ſind; oder aber, wenn
die meiſten traͤge, langſam, ſtumpf, matt, und
nur von gemeinem Witze ſich befinden.
CXIII. So ſagt man daher, daß der Fran-
zoſe
einen lebhaftern Geſchmack habe, als ein
Spanier. Der Englaͤnder hat eine natuͤrliche
Neigung zum hohen Geſchmacke. Der Jta-
liaͤner
O 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0221" n="213"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">vom ge&#x017F;unden Witze, &#xA75B;c.</hi> </fw><lb/>
            <list>
              <item><hi rendition="#aq">CIX.</hi> Wie es mehr Reizung erwecket, wenn<lb/>
eine wahrhafte Scho&#x0364;nheit nur ihr Ange&#x017F;icht,<lb/>
Ha&#x0364;nde und Bu&#x017F;en &#x017F;ehen la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et, die u&#x0364;brigen Glied-<lb/>
maßen aber verdecket: Al&#x017F;o i&#x017F;t bey dem <hi rendition="#fr">erhabe-<lb/>
nen</hi> Ge&#x017F;chmacke auch etwas <hi rendition="#fr">verdecktes,</hi> das<lb/>
der andere durch &#x017F;charfes Nach&#x017F;innen er&#x017F;t heraus-<lb/>
bringet, und die&#x017F;e <hi rendition="#fr">ver&#x017F;teckte Scho&#x0364;nheit</hi> machet<lb/>
den Vortrag de&#x017F;to durchdringender und herz-<lb/>
ru&#x0364;hrender.</item><lb/>
              <item><hi rendition="#aq">CX.</hi> So wenig eine zu&#x0364;chtige Scho&#x0364;ne &#x017F;ich<lb/>
vor jedermann ganz entblo&#x0364;ßen, noch &#x017F;ich vo&#x0364;llig<lb/>
nackend zeigen wird: So wenig wird einer, der<lb/>
einen <hi rendition="#fr">hohen Ge&#x017F;chmack</hi> be&#x017F;itzet, &#x017F;olchen lieder-<lb/>
lich ver&#x017F;chwenden, und bey Dingen, die, ihrer<lb/>
Natur nach, niedrig &#x017F;ind, &#x017F;ich nicht die Mu&#x0364;he<lb/>
nehmen, <hi rendition="#fr">erhabens Gedanken</hi> anzubringen.</item><lb/>
              <item><hi rendition="#aq">CXI.</hi> Es i&#x017F;t <hi rendition="#fr">keine Nation,</hi> die den hohen<lb/>
Ge&#x017F;chmack fu&#x0364;r &#x017F;ich allein gepachtet ha&#x0364;tte; auch<lb/>
i&#x017F;t kein Volk <hi rendition="#fr">&#x017F;o barbari&#x017F;ch,</hi> daß es nicht unter<lb/>
&#x017F;olchem etliche geben &#x017F;ollte, die einen fu&#x0364;rtrefflichen<lb/><hi rendition="#aq">bon &#x017F;ens</hi> be&#x017F;itzen.</item><lb/>
              <item><hi rendition="#aq">CXII.</hi> Doch pfleget man eine Nation dar-<lb/>
nach zu benennen, nachdem die <hi rendition="#fr">mei&#x017F;ten Ko&#x0364;pfe</hi><lb/>
entweder munter, aufgeweckt, lebhaft, feurig,<lb/>
und von hohem Witze &#x017F;ind; oder aber, wenn<lb/>
die mei&#x017F;ten tra&#x0364;ge, lang&#x017F;am, &#x017F;tumpf, matt, und<lb/>
nur von gemeinem Witze &#x017F;ich befinden.</item><lb/>
              <item><hi rendition="#aq">CXIII.</hi> So &#x017F;agt man daher, daß der <hi rendition="#fr">Fran-<lb/>
zo&#x017F;e</hi> einen <hi rendition="#fr">lebhaftern</hi> Ge&#x017F;chmack habe, als ein<lb/><hi rendition="#fr">Spanier.</hi> Der <hi rendition="#fr">Engla&#x0364;nder</hi> hat eine natu&#x0364;rliche<lb/>
Neigung zum <hi rendition="#fr">hohen</hi> Ge&#x017F;chmacke. Der <hi rendition="#fr">Jta-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O 3</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">lia&#x0364;ner</hi></fw><lb/></item>
            </list>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0221] vom geſunden Witze, ꝛc. CIX. Wie es mehr Reizung erwecket, wenn eine wahrhafte Schoͤnheit nur ihr Angeſicht, Haͤnde und Buſen ſehen laͤſſet, die uͤbrigen Glied- maßen aber verdecket: Alſo iſt bey dem erhabe- nen Geſchmacke auch etwas verdecktes, das der andere durch ſcharfes Nachſinnen erſt heraus- bringet, und dieſe verſteckte Schoͤnheit machet den Vortrag deſto durchdringender und herz- ruͤhrender. CX. So wenig eine zuͤchtige Schoͤne ſich vor jedermann ganz entbloͤßen, noch ſich voͤllig nackend zeigen wird: So wenig wird einer, der einen hohen Geſchmack beſitzet, ſolchen lieder- lich verſchwenden, und bey Dingen, die, ihrer Natur nach, niedrig ſind, ſich nicht die Muͤhe nehmen, erhabens Gedanken anzubringen. CXI. Es iſt keine Nation, die den hohen Geſchmack fuͤr ſich allein gepachtet haͤtte; auch iſt kein Volk ſo barbariſch, daß es nicht unter ſolchem etliche geben ſollte, die einen fuͤrtrefflichen bon ſens beſitzen. CXII. Doch pfleget man eine Nation dar- nach zu benennen, nachdem die meiſten Koͤpfe entweder munter, aufgeweckt, lebhaft, feurig, und von hohem Witze ſind; oder aber, wenn die meiſten traͤge, langſam, ſtumpf, matt, und nur von gemeinem Witze ſich befinden. CXIII. So ſagt man daher, daß der Fran- zoſe einen lebhaftern Geſchmack habe, als ein Spanier. Der Englaͤnder hat eine natuͤrliche Neigung zum hohen Geſchmacke. Der Jta- liaͤner O 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/221
Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/221>, abgerufen am 27.04.2024.